Kunstakademie München:Bilderstürmer wider Willen

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Eine Tortenschlacht? Das Werk "After Hour" der Bühnenbild-Klasse. (Foto: Paul Hiller)

Die Münchner Kunstakademie zeigt die zweite Pandemie-Ausgabe ihrer Jahresausstellung und liegt damit auch inhaltlich nahe am Zeitgeist.

Von Jürgen Moises, München

Schon mal vom Bärentierchen gehört? Der Name klingt sehr niedlich, aber das winzige, weniger als einen Millimeter große Tier, das hat es in sich. Denn es ist ein wahrer Überlebenskünstler, kann die extremsten Temperaturen und radioaktive Strahlung ab und kommt sogar ohne Sauerstoff aus. Deshalb wurde es bereits auf den Mond und in den interstellaren Raum geschickt. Nun tritt es in einem künstlerischen Film auf. "Successions" heißt dieser. Er ist die Diplomarbeit von Irena Dukanovic und von diesem Samstag an in der zweiten Diplomausstellung dieses Jahres in der Akademie der Bildenden Künste in München zu sehen. Die weiteren Protagonisten: Der menschliche Körper in seiner "inneren metabolischen Form" und die Blatt-Schaf-Schnecke. Noch so ein winziges Tier. Und eines, das durch das Schlucken von Algen Photosynthese betreiben kann.

Was bedeutet "überleben"? Das ist für Dukanovic eine zentrale Frage, die in ihrer bereits 2019 als Idee entstandenen Arbeit steckt. Und eine, die während Corona noch einmal eine andere Dringlichkeit bekommen hat. Dass wir als Menschen von den genannten Tierchen etwas lernen können, da ist sie sich sicher. Und dass grenzenlose Ausbeutung genauso wie bloßes Überleben nicht das Ziel sein kann. Sehr existenziell also das Ganze, und existenzielle Themen gibt es einige in dieser Diplomausstellung, die zur "Jahresausstellung 2021: Pandemic Edition No2" gehört. Die Diplomausstellung findet in der Akademie statt: mit Maskenpflicht und einer Beschränkung auf 400 Personen. Weitere Arbeiten von Studierenden gibt es an verschiedenen Orten in der Stadt und unter www.jahresausstellung2021.de zu sehen.

Kunst über die Natur, das Anthropozän, den Klimawandel - die Arbeiten sind politisch und widerständig.

Auf der genannten Webseite gibt es auch alle wichtigen Daten und Infos, sowie einen Plan mit allen Standorten. Außerdem soll im Herbst ein Katalog erscheinen, der die Diplomarbeiten dieses Jahres (Frühjahr und Sommer) zusammenfasst. Die Arbeit mit gedruckten und digitalen Formaten, sie ist wie im vergangenen Jahr eine Reaktion auf die Pandemie. Und ein Stück weit darf man sicher auch den existenziellen Zug, die Hinwendung zur Natur in zahlreichen Arbeiten so verstehen. So sind etwa bei Sarah Doerfels Keramik- und Latexobjekten "Symbiose und Parasitismus vor dem Hintergrund des Klimawandels" das Thema. Vorbilder dafür waren ähnlich wie bei Dukanovic ungewöhnliche Lebewesen. Wie etwa der Plattwurm "Convoluta roscoffensis", der mit Algen in Symbiose lebt. Oder eine Ameisenart, die im Regenwald sämtliche Pflanzen in ihrer Umgebung vergiftet und dadurch "Teufelsgärten" schafft, in denen einzig das Rötegewächs "Duroia hirsuta" wächst, das die Ameisen zum Überleben brauchen.

Auch Birke und Fichte leben in Symbiose. Dies hat wiederum Sandra Hasenöder zu einer unter dem Stichwort "Anthropozän" stehenden Arbeit inspiriert, in der sie Baumstämme aus dem Perlacher Forst mit Klängen aus dem Wald und aus den Bäumen gewonnenen Aufgüssen verbindet. Wie sich das Anthropozän im Rheinischen Braunkohlerevier auswirkt, das hat Mara Pollack seit Jahren im Blick. "Das Land wird hergerichtet, abgerichtet, hingerichtet", heißt es im Bildband "Zurückgebaut", der ihre Fotografien von Tagebaugruben, Industriegebäuden und verlassenen Retortenstädten zusammenfasst. Bilder, auf die man im Zuge des Klimawandels noch einmal anders blickt. Aber ob sie auch ein Umdenken bewirken?

Dass jedenfalls das Kino ein Mittel des Widerstands sein kann, das zeigen die "Cineclubistas" in Brasilien. Patrik Thomas war 2019 dort, in den Peripherien, wo es tausende von Kirchen, aber kaum soziokulturelle Orte gibt. Und wo Filmaktivisten in selbstgedrehten Filmen, in improvisierten Kinos Narrative zu Gehör bringen, die in der Politik, den Medien nicht vorkommen. Thomas hat ihre Arbeit filmisch dokumentiert, wird auch Filme der Aktivisten zeigen, wollte auch welche einladen, aber das war nicht möglich. Wegen Corona, das auch sonst das Akademieleben stark einschränkt. Wegen der "unsichtbaren Mauern", die das Virus schafft und die Minjae Lee in einer Performance thematisiert. Dafür hat er eine künstliche Wand mit Durchgang und zwei Glastüren geschaffen. Dahinter: Zwei Performer, die die Scheiben anhauchen, bis das Wort "Angst" zum Vorschein kommt.

Quasi unter den Füßen haben Nataliya Borushchak und Dominik Bais ihre Themen gefunden. Borushchak hat einen der Atelierböden mit weißen Strichen überzogen, wodurch sie die Aufmerksamkeit auf dessen Furchen, Unreinheiten und damit auf dessen Geschichte lenkt. Bais hat zwei beschädigte, mehr als 200 Jahre alte Gipsabgüsse von römischen Monumentalstatuen aus dem Keller in den Kolossaal der Akademie transportiert und bringt sie dort mit einem Hubwagen und fünf Tänzerinnen in Bewegung. Eine Auseinandersetzung mit den aktuellen postkolonialen Denkmalsstürzen. Wobei sich Bais selbst gar nicht als "Bilderstürmer" sieht, sondern eher "Denkbewegungen" auslösen und neue Perspektiven ermöglichen will.

Bewegen muss sich auch der Besucher, der alle 33 Diplomarbeiten und vor allem den Rest der Jahresausstellung "live" sehen will. Einzelne Klassen präsentieren ihre Kunst im Garten oder "bei geöffnetem Fenster". Die Klassen Pontoppidan und Pia Fries haben in den Galerien Biró und Braun-Falco ihren Ort, die Klasse Oehlen ist in der Roten Sonne, bei "Ligne Roset" gibt es eine klassenübergreifende Ausstellung und die Bühnenklasse Brack zeigt ihre Arbeit "Afterhour" (eine Tortenschlacht?) in der Sansaro Artbox. Die Kunstpädagogik-Klasse Hien wird an neun Tagen durch neun Parks ziehen. Dabei hat sie befüllte Schränke, "die verschiedene Bedürfnisse und Phänomene der Pandemie thematisieren". Darunter sind ein Kloschrank mit Originalgraffiti aus den Akademietoiletten und ein Diskoschrank mit eingebautem Ellenbogen, an dem man sich reiben kann.

Jahresausstellung 2021, Sa., 17. bis 25. Juli, Akademie der Bildenden Künste (Akademiestr. 2-4), online und weitere Orte, www.jahresausstellung2021.de

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