Urteile gegen die "Weiße Rose":Als hätte Freisler gerade noch hier gesessen

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Ein Foto aus der Ausstellung zeigt einen Gerichtssaal in München zur NS-Zeit. (Foto: Stephan Rumpf)

Eine neue Ausstellung im Münchner Justizpalast richtet den Blick auf die NS-Täter in Richterroben, die nach dem Krieg fast alle ungeschoren davongekommen sind. Die dunkle Aura im Gerichtssaal ist noch zu spüren.

Von Annette Ramelsberger

Der Saal 253 wirkt auf den ersten Blick fast behaglich. Die Wandvertäfelung in honigfarbenem Holz, kleine Schnitzereien an der Richterbank, eine lange, schlichte Holzbank, quer durch den Saal. Die Behaglichkeit täuscht. Am 19. April 1943, vor genau 80 Jahren, saßen auf dieser Holzbank 14 Menschen, und sie erwarteten das Schlimmste. Vor ihnen, drei Stufen erhöht, thronte der Volksgerichtshof - das oberste Gericht im Nationalsozialismus, mit seinem Vorsitzenden Roland Freisler in seiner roten Robe, der zur Fratze des Unrechtsstaats geworden war: Er schrie die Angeklagten nieder, beleidigte sie, verhöhnte sie. Wie im Wahn erfüllte er das, was er für seine oberste Pflicht hielt: den Willen Adolf Hitlers im Gerichtssaal durchzusetzen. Hinter ihm hing das Bild des Führers an der Wand.

Die Urteile dieses Gerichts waren unanfechtbar, sie waren sofort gültig. Und sie waren fast immer tödlich. Allein im Jahr 1943 verhängte der Volksgerichtshof mehr als 1500 Todesstrafen, insgesamt waren es mehr als 5000. Drei davon sprach Freisler im Saal 253: gegen die jungen Medizinstudenten Alexander Schmorell und Willi Graf und gegen ihren Mentor, den Musikwissenschaftler Professor Kurt Huber. Sie alle waren Mitglieder der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", die nichts anderes forderte als Meinungsfreiheit und ein Endes des Krieges.

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Wer heute in diesen Saal tritt, stößt nun als erstes auf eine Art metallenen Trümmerhaufen, wie ein Blitz aus Eisen, der in diesen Saal gefahren ist. Ein Blitz, der so vieles beleuchtet: das Grauen, die Willkür, gewandet in die Robe des Rechts. Der Blitz zeigt aber noch mehr: wie die deutsche, die bayerische, die Münchner Justiz nach diesen Verbrechen fast bruchlos zum Alltag überging. Wie Richter, die Bluturteile gesprochen hatten, innerhalb kürzester Zeit wieder auf ihre Posten zurückkehrten. Während Nazi-Opfer über Jahrzehnte hinweg um ihre Rehabilitierung kämpfen mussten, konnten Nazi-Richter weitermachen, als hätten sie niemals Schuld auf sich geladen.

Der Witwe des Richters wurde eine Sonderrente zugesprochen

Noch 1985 gestand das Land Bayern der in München lebenden Witwe von Freisler eine Sonderrente zu, 400 Mark im Monat. Die Beamten im Landesversorgungsamt gingen davon aus, dass ihr Mann, der Justizverbrecher, in der Bundesrepublik als "Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes" in der Justiz Karriere gemacht hätte, wäre er nicht 1945 bei einem Fliegerangriff gestorben.

Im Saal 253 steht nun eine Art metallener Trümmerhaufen, wie ein Blitz aus Eisen. Ein Blitz, der so vieles beleuchtet: das Grauen, die Willkür, gewandet in die Robe des Rechts. Justizminister Georg Eisenreich und die Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, Hildegard Kronawitter, werden die Ausstellung eröffnen. (Foto: Stephan Rumpf)

Mitten im Münchner Justizpalast ist nun eine neue Ausstellung zu sehen, und eigentlich hätte sie schon vor 70 Jahren dort gezeigt werden müssen. Es geht darum , wie die Justiz mit den Freiheitskämpfern der "Weißen Rose" umging. Es geht aber vor allem darum, dass die Justiz sich jahrzehntelang nicht mit ihrer eigenen braunen Vergangenheit beschäftigte, kein einziger Richter des Volksgerichtshofs wurde von deutschen Gerichten verurteilt. Als es das Landgericht Berlin 1967 bei einem der Richter versuchte, hob der Bundesgerichtshof das Urteil wieder auf.

Dieses Denkmal des Erinnerns an Justizunrecht steht nicht in einem Museum, sondern in einem lebenden, arbeitenden Gericht. In der Mittagspause laufen die Angehörigen der Strafrechtsabteilung vorbei, nebenan, in dem Saal, wo Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst verurteilt wurden, sehen Jurastudenten gerade Akten ein. Dieser Saal des ersten Weiße-Rose-Prozesses ist nicht mehr im Original erhalten. Er ist umgebaut, die Kuppel abgehängt, hellblaue Wände lassen nichts von dem Schrecken ahnen, als Freisler die drei jungen Menschen innerhalb eines Tages zum Tode verurteilte. Am 18. Februar 1943 waren sie gefasst worden, am 22. Februar starben sie unter der Guillotine in Stadelheim.

"Was ist Recht? Was ist Unrecht? Was ist Gesetz?"

Wer in den zweiten Stock des Justizpalasts am Münchner Stachus hinaufsteigt, sieht als erstes eine Inschrift: "Was ist Recht? Was ist Unrecht? Was ist Gesetz?" Und dann fallen einem die Flugblätter der "Weißen Rose" entgegen, als Lichtinstallation an der Decke - jene Flugblätter, die die Geschwister Scholl in der Ludwig-Maximilians-Universität in den Lichthof hinabsegeln ließen. Und dabei vom Hausmeister entdeckt wurden. Der denunzierte sie. Dieser Mann wurde nach dem Krieg als "Hauptschuldiger" eingestuft, fünf Jahre musste er ins Arbeitslager. Die Schreibtischtäter kamen meist glimpflich davon, und 1968 setzte einer der ehemaligen Nazi-Juristen sogar eine Amnestie für alle Gewaltverbrechen im NS-Reich durch -außer für Mord. Das führte dazu, dass jahrzehntelang keine Straftaten mehr geahndet werden konnten. Erst seit einigen Jahren ermittelt die Justiz wieder gegen NS-Schergen, nur sind die Angeklagten jetzt uralte Menschen, kaum mehr verhandlungsfähig.

In der Ausstellung im Münchner Justizpalast wird der Mitglieder der Weißen Rose gedacht - und des Unrechts, das ihnen und anderen unter der NS-Justiz angetan wurde. (Foto: Stephan Rumpf)

Wie es damals war für die jungen Menschen auf der Anklagebank, das kann man nun sehr eindrücklich nachempfinden im Saal des zweiten "Weiße-Rose"-Prozesses. Er ist fast originalgetreu erhalten. Nur das Hitlerbild über dem Richtertisch hat man abgehängt.

Falk Harnack, Katharina Schüddekopf, Susanne Hirzel - diese drei der damaligen Angeklagten haben die Erinnerungen an diesen Tag aufgeschrieben, daraus ist ein beeindruckender Film entstanden, eine Graphic Novel, deren Intensität durch die absolute Stille noch verstärkt wird: Die Bilder von Matthias Schardt zeichnen den Gerichtstag nach. Die Angeklagten, wie sie auf jener Bank saßen, von morgens früh bis nachts um 22.30 Uhr, in Todesangst. Wie sie von je zwei Wachtmeistern in den Saal geführt wurden, in ihrem Nacken saßen SA- und SS-Leute, die sie bedrohten.

Von vorne schrie Freisler auf sie ein, von hinten die SA. Das Gericht: zwei Richter des Volksgerichtshofs, die Beisitzer Generäle, Parteibonzen, die geballte Macht des Nazistaates. Freisler, so erinnert sich die damals erst 18 Jahre alte Susanne Hirzel, wischte das Gesetzbuch, das ihm sein Beisitzer hinschob, mit schroffer Geste auf den Boden: "Wir brauchen keine Gesetzesbücher, hier richtet das nationalsozialistische Herz!"

Da sieht man den geachteten Professor Huber, der sich mit großem Mut vor Freisler stellte, zu seiner letzten Rede. "Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird", sagte Huber. "Dann nämlich, wenn sie zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzungen aufzutreten. Ein Staat, der jede freie Meinungsäußerung unterbindet und auch jede sittlich berechtigte Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag unter die furchtbarsten Strafen stellt, bricht ein ungeschriebenes Gesetz, ein ungeschriebenes Recht, das im Volksempfinden lebendig bleiben muss." Huber wurde verhöhnt von Freisler. Und zum Tode verurteilt.

So ein "herrliches deutsches Mädel" stehe da

Der Wehrmachtssoldat Falk Harnack wurde überraschend freigesprochen, als zynische Ehrerbietung an den Geburtstag des Führers am nächsten Tag. Vier Monate vorher war Harnacks Bruder als Widerstandskämpfer in Berlin hingerichtet worden. Die junge Susanne Hirzel entkam dem Tod, weil sich ihr Anwalt in die Hirne Freislers und seiner Mitrichter versetzte. So ein "herrliches deutsches Mädel" stehe da, sagte der Anwalt, es wäre doch schade, wenn "das Erbgut dieser deutschen Familie geschmälert" würde. Was heißt: Der arische Genpool würde durch ein Todesurteil geschwächt, die Angeklagte könnte keine Arier mehr in die Welt setzen. Es wirkte.

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich, früher selbst Anwalt, ist kurz vor der Eröffnung der Ausstellung in den Weiße-Rose-Saal gekommen, nicht zum ersten Mal. Am Tag seines Amtsantritts war er schon einmal hier, abends, allein. Damals hat er sich auf die lange Anklagebank gesetzt, deren Kante in die Schulterblätter sticht, und er hat gezögert, die drei Stufen zur Richterbank hochzusteigen. Eine "innere Scheu" habe er gehabt, sagt Eisenreich. Man spürt dort oben eine dunkle Aura, als hätte Freisler gerade erst den Saal verlassen. Die Stühle, die dort stehen, stammen aus jener Zeit, es ist gut möglich, dass sich Freisler schreiend an den hölzernen Lehnen festgekrallt hat. Es ist diese "auratische Wirkung" des Raumes, die die Ausstellungsmacher um die Historikerin Henriette Holz und den Kreativen Christian Hölzl erhalten wollten.

Schwere metallene Platten mit Beschriftungen und Fotos führen Richtung Verhandlungssaal. Sie sind Sinnbild für die Demolierung des Rechtsstaats. (Foto: Stephan Rumpf)

Der Weg von der pompösen Treppe des Justizpalasts bis zum Weiße-Rose-Saal am Ende des Ganges ist gesäumt mit schweren metallenen Platten. Schritt für Schritt drücken die Platten schwerer aufs Gemüt, Schritt für Schritt sind sie stärker verzogen, demoliert: als Sinnbild für die Demolierung des Rechtsstaats. Innerhalb kürzester Zeit hatten ihn die Nazis zerstört, und die Justiz machte bereitwillig mit.

Viel Text ist da zu lesen, man ist ja unter Juristen. Und an die richtet sich die neu gestaltete Ausstellung in erster Linie. Sie soll nicht nur Erinnerung sein, sondern Ermutigung, das Recht zu verteidigen gerade in Zeiten, in denen der Rechtsstaat nicht mehr unangefochten ist. In Polen versucht die Regierung, die unabhängige Justiz zu zerschlagen, in Israel demonstrieren Bürger seit Monaten gegen die angebliche "Justizreform". Und in Deutschland sitzt eine Richterin in Haft, weil sie laut Bundesanwaltschaft versucht hat, mit anderen Rechtsradikalen gewaltsam die Demokratie zu stürzen. "Wenn das System wackelt, ist die dritte Gewalt gefragt", sagt Tobias Rottmeir, der die Ausstellung im Justizministerium betreut.

Die Nazis haben die Prozesse gegen die "Weiße Rose" durchgezogen, sogar noch, als der Justizpalast schon von Bomben getroffen war. Den dritten Prozess haben sie nach Donauwörth ausgelagert. Dort wurde im Herbst 1944 dann noch der Chemiestudent Hans Leipelt zum Tode verurteilt. Er hatte Geld für die Witwe von Professor Huber gesammelt.

Am Ende des Rundgangs trifft man auf einen Spiegel. "Die Demokratie braucht Demokraten" steht darauf - und man sieht sich selbst.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung des Textes hieß es, das Todesurteil gegen Hans Leipelt sei "im Herbst 1943" in Donauwörth gesprochen worden. Tatsächlich erging das NS-Urteil gegen Leipelt im Herbst 1944 dort. Wir haben das im Text korrigiert.

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