Jochen Distelmeyer:"Ich folge einfach dem kosmischen Flow"

Lesezeit: 5 min

Goldene Jacke, nachdenkliche James-Dean-Pose: Jochen Distelmeyer geht mit seinem zweiten Solo-Album auf Tour. (Foto: Sven-Sindt)

Der einstige "Blumfeld"-Kopf Jochen Distelmeyer vereint auf seinem neuen Album "Gefühlte Wahrheiten" Gesellschaftskritik und Liebeslieder zu einem stimmigen Ganzen. Nun geht er auf Tour.

Interview von Martin Pfnür

Als Sänger und Songwriter der 2007 aufgelösten Band Blumfeld trug Jochen Distelmeyer in den Neunzigerjahren wesentlich dazu dabei, deutsche Texte im Indie-Segment salonfähig zu machen. Der popkulturelle Nachhall der sogenannten Hamburger Schule, zu der auch bis heute aktive Bands wie Tocotronic oder Die Sterne zählten, ist eng mit seinen Songs verknüpft. Auf seinem zweiten Solo-Album beweist er nun, dass Pop-Songs und sozialkritischer Biss sich keinesfalls ausschließen müssen.

SZ: Herr Distelmeyer, Sie haben Ihr neues Album mit einem Titel überschrieben, der auf die Dehnbarkeit der Realität verweist, die seit der Präsidentschaft Donald Trumps und der Pandemie ganz neue Ausmaße angenommen hat. Was hat Sie an diesem Phänomen interessiert?

Jochen Distelmeyer: Für mich war "Gefühlte Wahrheiten" einfach der perfekte Titel, um einen Bogen zwischen den Liebesliedern und den gesellschaftlich engagierteren Songs zu spannen. Auch, um zu verdeutlichen, worum es im Kern der Platte geht: Dass die gefühlten Wahrheiten, die persönlichen Überzeugungen jedes Einzelnen, unseren Zugang zur Wirklichkeit immer mitprägen und steuern.

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Auf dem Cover des Albums ist eine mittig abgeflachte Erdkugel zu sehen - schon ein spezieller Zugang zur Wirklichkeit.

Früher war es ja wissenschaftlicher Common Sense, die Erde für flach zu halten. Dabei ging eine gebildete Minderheit schon seit Platon davon aus, dass sie eine Kugel sein muss. Und so wie sich die Realitäts- und Wahrheitsbegriffe damals auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnis herausschälten, werden wir das auch mit anderen Dingen wieder erleben.

Das aktuell angesagtere Ding ist die Hohlerde: Das Cover von Jochen Distelmeyers Album "Gefühlte Wahrheiten". (Foto: Sven-Sindt)

Die Mitglieder der "Flat Earth Society" werden das wohl anders sehen, für die ist die Erde bis heute flach.

Ach, das ist doch schon wieder ein Retro-Kult. Das aktuell angesagtere Ding ist jetzt wieder die Hohlerde ( lacht).

Im Fokus der Platte steht dann allerdings erst mal ein Thema, das gar nicht so sehr mit dem Titel zu korrespondieren scheint: Die Liebe in all ihren Stadien, vom ersten Flirt bis zum Trennungsschmerz. Warum so ausführlich?

Zunächst einmal, weil ich all das selbst erlebt habe. Verletzungen und Schmerz gehören doch zum Leben dazu. So wie der Flirt, die Freude und das Glück. Mir ging es darum, die Vielschichtigkeit unserer Emotionen abzubilden, den Vielklang dieses inneren Orchesters. Und damit vielleicht den Leuten die Angst davor zu nehmen.

An Emotionen scheint es Realitätsverweigerern aber nicht unbedingt zu mangeln, um das mal zusammenzuspinnen.

Aberglaube oder Unwissenschaftlichkeit sind ja nicht das Ergebnis von zu viel Emotion, sondern von einem angstvollen und verdrängenden Umgang damit. Das hat natürlich gerade in Deutschland eine gewisse Tradition. Trauer, Schmerz, Verletzlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, all das wird in vielen Gesellschaften ja eher unsichtbar gemacht. Als gälten Empfindungen schon als verdächtig. Aus dieser Abwehr, der angstvollen Weigerung, sich seiner Gefühle bewusst zu werden, ergibt sich die Irrationalität. Auch die der öffentlichen Debatten und der Bereitschaft, andere zu diskriminieren und auszugrenzen.

Und das bedeutet im Umkehrschluss?

Dass man zu einem realistischeren Umgang mit sich selbst, mit anderen und der Welt gelangt, wenn man sich den eigenen Begierden, Sehnsüchten oder Ängsten stellt, ihnen nachspürt. Das war einer der Impulse dafür, die Platte so zu nennen und sie mit diesem Artwork zu versehen: Um einen Zugang zu dem Empfindungsreichtum des Lebens zu eröffnen, diesem "Garten der Lüste", und uns daran zu erinnern, was sich gut anfühlt und was wir wirklich brauchen.

In "Manchmal" singen Sie davon, mit gebrochenem Herzen nach Berlin gezogen zu sein. Da Sie einst selbst von Hamburg nach Berlin gezogen sind: Darf man den Song autobiografisch hören?

( lacht) Klar, deswegen schreibe und singe ich das ja auch. Natürlich handeln meine Stücke immer auch von mir. Zwar ist die Sprecherposition da nicht immer identisch, aber ich erzähle doch von dem, was ich weiß, kenne und selbst empfunden habe.

In "Zurück zu mir" wiederum verweben sie die persönliche Krise eines frisch Getrennten mit dem Hintergrund einer heißgelaufenen Welt "wie ein böser Traum". So gesehen ein prototypischer Blumfeld-Song.

Ja doch, das ist immer noch mein Verständnis von Songwriting: Das persönliche Erleben in Beziehung setzen zu der Welt, in der man liebt und lebt.

Eine Welt, deren Bewohner in Ihren Songs oft nicht besonders gut wegkommen ...

Diese übersteigerte Größenwahrnehmung des modernen Menschen der Industrienationen, gekoppelt an die ewigen Wachstumsversprechen des Kapitalismus - das ist angesichts einer herannahenden Klimakatastrophe, zunehmender Überbevölkerung und begrenzter Ressourcenlage doch völlig gaga! Der Mensch ist doch immer noch Teil der Natur und ihr unterworfen, auch wenn das heutzutage mangels fehlender Demut gerne ausgeblendet wird.

Im finalen "Ich sing für dich" beschwören Sie die heilende Kraft der Musik, vor allem für all jene, die nicht in den Genuss der Privilegien der westlichen Welt kommen. In welcher Tradition sehen Sie sich da?

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Ich sehe mich als Sänger eines persönlichen Lebens. Und diese Tradition reicht für mich mindestens bis ins Mittelalter zurück. Von der Troubadour-Lyrik über den Minnesang, das fahrende Volk der Sinti und Roma, die Hobo-Kultur des Blues: All das sind Wanderungsbewegungen der Sänger des persönlichen Lebens, die irgendwann via Blues zu Rock'n'Roll und schließlich zur Pop-Kultur wurden.

Ihr Album vereint eine stilistische Streuweite von souligem Pop über erdigen Country bis hin zum bluesigen Erzähl-Panorama im Stile Bob Dylans. Wie kommt's?

Das hat sich tatsächlich mehr im Laufe der Jahre, in denen ich die Stücke geschrieben habe, ergeben. Vor allem natürlich durch meine intensive Beschäftigung mit Soul, R'n'B, Hip-Hop, Country und Blues. Diese genremäßige Unterscheidung interessiert mich aber eigentlich gar nicht so sehr.

Sondern?

Ich gucke vielmehr dahin, wo Künstler mit ihren eigenen Mitteln an etwas Ähnlichem arbeiten wie ich. Wichtig ist mir vor allem zu spüren, dass da ein Vertrauen in die heilende und friedensstiftende Kraft der Musik da ist. So gesehen sind die Unterschiede zwischen den Künstlern, die mich inspirieren, gar nicht so groß.

Seit der Auflösung von Blumfeld veröffentlichten Sie zwei Soloalben, einen Roman, ein Cover-Album und einen Sampler. Genießen Sie Ihre Freiheit als Solist?

Ich bin schon auch immer noch ein Band-Musiker und brauche Menschen um mich herum, zu denen ich ein persönliches und musikalisches Verhältnis habe. Für die anstehende Tour bin ich ja auch wieder mit einer neuen Band unterwegs. Gleichzeitig habe ich schon auch ein Interesse daran, mich überall da kreativ auszuprobieren, wo es mich hinzieht. Ich folge da einfach dem kosmischen Flow, der uns umspielt.

Wie steht es denn eigentlich um Blumfeld? Für Live-Auftritte wurde die Band ja immer wieder mal reaktiviert.

Wir haben es bei der Jubiläumstour zu "L'etat et Moi" und zuletzt bei der "Love Riots Tour" total genossen, wieder zusammen zu spielen. Gleichzeitig sind wir natürlich alle mit eigenen Projekten, mit Jobs und Familien beschäftigt, und so etwas wie eine Absprache, wie es weitergehen könnte, gibt es auch nicht. Das läuft alles ein bisschen auf Zuruf und hängt auch davon ab, wie es sich für uns anfühlt.

Ihre Sprache ist auf den ersten beiden Blumfeld-Alben ja noch primär assoziativ geprägt, wurde dann jedoch immer transparenter. Warum eigentlich?

Mich zieht es mittlerweile eher zu Texten, die gar nicht mehr geschrieben wirken. Wo man das Handwerk und die Gedanken dahinter gewissermaßen nicht mehr heraushört. Klarheit, Eindeutigkeit, Verbindlichkeit und das Bekenntnis zu einer Überzeugung sind mir da einfach wichtiger, auch auf die Gefahr hin, mich damit angreifbar zu machen.

Mit der tollen, neuen Zeile "Das real life ist den Hatern ins Netz gegangen" lassen sie den alten Stil zumindest noch mal aufblitzen.

Die ist aber auch lustig, oder?

Absolut, eine gewitzte Breitseite gegen den Online-Populismus.

Populismus, Demagogie, Manipulation, das Angebot der einfachen Antwort, all das ist ja darauf ausgelegt, Menschen auszugrenzen und herabzuwürdigen, um sich selber größer zu machen. Ich bin jedoch immer noch der vollen Überzeugung, dass der Glaube an die Mitmenschlichkeit immer noch tief genug in uns allen verwurzelt ist. Die wilde Natur der Liebe ist einfach stärker.

Jochen Distelmeyer, Dienstag, 20. September, 20 Uhr, Z-Bau, Nürnberg; Mittwoch, 26. Oktober, 20 Uhr, Ampere, München

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