Holocaust-Überlebende Esther Bejarano:"Sie hätte auch heute nicht geschwiegen"

Lesezeit: 3 min

"Ihr müsst eure Stimme erheben, euch einmischen, euch einbringen!": Esther Bejarano starb im vergangenen Jahr im Alter von 96 Jahren. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano rief bis zu ihrem Tod Jugendliche dazu auf, sich politisch einzumischen. Die Vorstellung ihres letzten Buchs mutiert in prominent besetzter Runde zur Diskussion über die Ukraine, die angebliche Entnazifizierung und den Krieg.

Von Jakob Wetzel

Der Krieg ist da, auch hier, im Presseclub am Münchner Marienplatz. Das Neue Rathaus gegenüber ist in den Farben der Stadt, der Europäischen Union und der Ukraine beflaggt. Und im Presseclub sitzt Petra Pau (Linke), die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Sie ist eigentlich gekommen, um ein Buch vorzustellen, gemeinsam mit der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Doch es brodele in ihr, schon andauernd, sagt Pau. Und Schuster meint, die deutschen Jüdinnen und Juden, von denen viele aus der ehemaligen Sowjetunion stammten, stünden fast einhellig auf ukrainischer Seite. Nur vereinzelt gebe es Streit, etwa dort, wo in Seniorenheimen Bewohner gerne das russische Staatsfernsehen sehen, weil Russisch nun einmal ihre Muttersprache sei.

Das Buch, das die Runde zusammengeführt hat, heißt "Nie schweigen". Es enthält das wohl letzte Interview mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano. Der Journalist Sascha Hellen hatte sie im Juni 2021 mit zwei Jugendlichen in Hamburg besucht, dem 18-jährigen Studenten Kay Moritz Ebbinghaus und dem 16-jährigen Azubi Florian Bessel. Beinahe wäre das Interview geplatzt, Bejarano war in der Nacht zuvor gestürzt und stundenlang auf dem Boden gelegen, weil sie den Nothilfeknopf nicht zu fassen bekam. Ein geplantes zweites Gespräch kam dann nicht mehr zustande. Bejarano ist im Juli 2021 im Alter von 96 Jahren gestorben.

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Bejarano überlebt Auschwitz als Mitglied des Mädchenorchesters

Sie ist bis zuletzt eine laute Mahnerin gewesen. Geboren 1924 in Saarlouis, wurde sie mit 18 Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Sie überlebte als Teil des sogenannten Mädchenorchesters, dafür hatte sie sich spontan das Akkordeonspielen beigebracht. 1944 wurde Bejarano ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, am Ende gelang ihr bei einem Todesmarsch die Flucht. Ihre Eltern und eine Schwester wurden von den Nazis ermordet.

1960 kehrte Bejarano aus Israel nach Deutschland zurück und beschloss, als Zeitzeugin aufzutreten, um an die Verbrechen der Nazis zu erinnern. Sie engagierte sich, zuweilen eckte sie auch an, etwa mit ihrer Unterstützung einer umstrittenen Boykottkampagne gegen Israel. Vor allem aber wollte sie Jugendliche erreichen. Zuletzt stand sie als Sängerin mit der Hiphop-Band "Microphone Mafia" auf der Bühne. Auch das Buch richtet sich an Jugendliche: Diese sollten ihre Geschichte weitererzählen, wenn Bejarano nicht mehr ist. Nur müssten sie die Geschichte erst einmal kennen.

"Die jungen Menschen wissen heute viel zu wenig über das, was in der Nazizeit geschehen ist", klagt Bejarano im Buch. In Fußnoten werden Begriffe erläutert, die der Lektor des Bonifatius-Verlags für erklärungsbedürftig hielt. "Akkordeon" zählt dazu, aber auch "NSDAP" und "Holocaust". Studien zufolge könnten 30 Prozent der Leute in seinem Alter mit diesem Begriff nichts anfangen, sagt Ebbinghaus. Der 18-Jährige sagt, sein emotionalster Moment im Gespräch mit Bejarano sei gewesen, wie diese erzählt habe, wie sie mit dem Mädchenorchester an der Rampe stand und spielte, wenn Züge ankamen. "Die Leute dachten, dass es ja nicht so schlimm sein könne, wenn da ein Orchester für sie spiele", sagt Ebbinghaus. Doch Bejarano musste zusehen, wie die Menschen danach in die Gaskammern geschickt wurden.

Zentralrats-Präsident Schuster nennt die angebliche Entnazifizierung der Ukraine einen "billigen Vorwand"

"Ihr müsst eure Stimme erheben, euch einmischen, euch einbringen!", lautet Bejaranos Appell. Und: nie schweigen. Ebbinghaus sagt, er habe sich das zu Herzen genommen. Einmal, als in Bochum die AfD einen Wahlkampfauftritt hatte und später Querdenker kamen, habe er über den Platz gerufen: "Alle, die hier heute versammelt sind, haben Blut an den Händen", sagt Ebbinghaus. Kurz zuvor hatte ein Mann in einer Tankstelle in Idar-Oberstein einen Studenten erschossen, der ihn an die Maskenpflicht erinnert hatte. Und Ebbinghaus erzählt von Passanten, die ihm gesagt hätten: Sie persönlich hätten nichts gegen Nazis. "Man kann nicht nichts gegen Nazis haben", sagt Ebbinghaus.

Und da ist der Krieg wieder, der im Heute, er treibt auch die Moderatorin um, die Journalistin Susanne Glass. Was davon zu halten sei, dass Putin seinen Feldzug mit der Entnazifizierung der Ukraine begründe, fragt sie, und das Podium ärgert sich. Ein "billiger Vorwand" sei das, sagt Schuster. "Ihr deutet uns die Geschichte nicht um, ihr macht nicht die Täter-Opfer-Umkehr", poltert Pau in Richtung Russland. "Perfide" sei das, sagt auch Leutheusser-Schnarrenberger. Gerade in der Ukraine hätten die Nazis besonders gewütet, "es sind noch gar nicht alle Gräber gefunden".

Esther Bejarano sei eine große Frau gewesen, sagt Sascha Hellen am Ende. Sie sei nicht nur eine Holocaust-Überlebende gewesen, sondern auch Pazifistin. "Sie hätte auch heute nicht geschwiegen."

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