Münchner Momente:Fünf Wellen in zehn Jahreszeiten

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Wer aufmerksam in die Welt schaut, bemerkt: Der Herbst rückt näher. Zeit für Zwetschgen und Melancholie - und die Hoffnung, dass sich die nächste Inzidenz-Spitze noch Zeit lässt.

Glosse von Stephan Handel

Wie kann es nur sein, ist doch erst August? Aber schon liegen die Zwetschgen in den Auslagen, schon werden die Tage kürzer (was natürlich nicht stimmt - die Tage sind immer gleich lang, 24 Stunden, nur die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang verkürzt sich). Am Morgen hat es normale 18 Grad und nicht brutale 26 Grad schon um acht Uhr. Und die Kastanienblätter machen's auch nicht mehr lange, was vielleicht an der Trockenheit liegt, aber leider auch daran: Es wird Herbst.

Es werden aber die Jahreszeiten schon lange nicht mehr als Jahreszeiten gezählt, sondern als Wellen: Die fünfte Welle scheint langsam den Strand der Harmlosigkeit zu erreichen, und München kann nur hoffen, dass die nächste, die sechste Welle, sich Zeit lässt bis Oktober, weil nämlich: Wiesn. Das besondere an Wellen ist, dass sie länger sind als Jahreszeiten, so dass in die vergangenen zehn Jahreszeiten nur fünf Wellen gepasst haben.

Meine Maske trag ich nicht, sagt der Maskenkasper

Dafür weiß man bei Jahreszeiten genau, wann sie beginnen, also theoretisch: Herbstbeginn soll am 23. September sein, aber jeder, der Augen hat zu sehen, sieht seine Anzeichen jetzt schon. Die Wellen und ihren Beginn hingegen kann man nicht sehen, sondern muss sie im Internet nachschlagen. Dafür kommen sie, wenn sie denn kommen, schnell - und zack, Inzidenz wieder über 800, aber nein, meine Maske trag ich nicht, sagt der Maskenkasper.

Erich Kästner schrieb, dass im August die Sonnenblumen ausschauen wie alte Frauen, die eine Reise in die Hauptstadt machten. Das lässt sich in München schwer überprüfen, weil hier ja alle Sonnenblumen schon in der (Landes-)Hauptstadt sind. "Nun hebt das Jahr die Sense hoch/und mäht die Sommertage wie ein Bauer", schreibt Kästner dann noch. Das ist ein schönes Bild: Das Jahr schneidet einen Sommertag nach dem anderen vom Kalender ab, bis keiner mehr übrig ist, dann kommt der Regen. Der Regen kann kommen, die Kastanie würde sich freuen und die Zwetschge auch.

Ein anderer Dichter, Sven Regener, singt: "Über Nacht kamen die Vögel/und gründeten einen Verein./ Der verzieht sich bald ans Mittelmeer/ und lässt uns im Regen allein." Das wäre ja noch nicht so schlimm, einsam im Regen zu wandern etc. Aber alleine zu bleiben mit der nächsten Welle, das müsste ja wirklich nicht sein. Man setze die Maske auf und rücke zusammen - dann könnt's gehen.

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