Münchner Momente:Verehren statt verzehren

Lesezeit: 1 min

Wie viele Hendl auf der Wiesn 2023 gegessen werden? Angeblich zählt das keiner mehr nach. (Foto: Stephan Rumpf)

Wer das Hendl nur als Bier-Grundlage vom Oktoberfest kennt, unterschätzt es. Jahrhundertelang wurden Hennen und Hähne von Menschen verehrt.

Glosse von Thomas Anlauf

So ein gscheides Hendl ist einfach zum Niederknien. Wie es schon daliegt: braungebrannt in Soße, daneben ein kugelrundgelber Knödel. Allein während der Wiesn landen etwa eine halbe Million Hendl auf den Tellern und werden von den Gästen bis auf die Knochen abgefieselt. Aber jetzt bitte einmal die fetttriefenden Finger abwischen und die Hände falten zur Andacht. Ein internationales Expertenteam, darunter Professor Joris Peters von der Staatssammlung für Paläoanatomie München und der LMU, hat bei einem knochenharten Forschungsprojekt herausgefunden, dass man Hühner früher nicht verzehrte, sondern verehrte.

Bislang hatten die Forscher angenommen, dass Hühner vor bis zu 10 000 Jahren in China und Südostasien als Haustiere gehalten wurden, in Europa seit mehr als 7000 Jahren. Völliger Schmarrn, hat das Expertenteam nun anhand von antiken Knochenfunden auf der halben Welt herausgefunden. Also: In Asien wurden demnach erst 1500 vor Christus wilde rote Dschungelhühner wegen des Reisanbaus in die Dörfer gelockt. Da haben die wohl so lange auf den Körnern herumgepickt, bis sie schließlich Haushühner wurden. In Thailand wurde aus der schmackhaften Kombination Khao Pad Gai kreiert. In Europa kamen Hühner deutlich später an, wie die Hühner-Forscher nun mitteilen. Seehändler schifften das Federvieh über das Mittelmeer, aber die Menschen verehrten jahrhundertelang Hennen und Hähne und lauschten ehrfurchtsvoll ihrem Gegacker und Gekrähe. Und wenn sie dann doch eines Tages in den Hühnerhimmel mussten, bekamen sie ein ordentliches Begräbnis in ganzen Stücken.

In München dauerte es noch viele Jahrhunderte, bis Hühner statt im Sarg auf dem Teller landeten. Zum einen ist München eine relativ junge Stadt, zum anderen wurde die Kartoffel für den kugelrundgelben Knödel erst durch Reichsgraf von Rumford Ende des 18. Jahrhunderts als Speise für die breite Masse schmackhaft gemacht. Pfanni kreierte sogar erst 1950 hinter dem Ostbahnhof den ersten Fertig-Kartoffelknödel, den Ur-Knödel. Das Münchner Ur-Hendl wiederum brutzelte 1955 Friedrich Jahn in der Amalienstraße, dem Hendl-Imperium Wienerwald. Wie die Geschichte zeigt, ist es ein langer Weg vom Verehren zum Verzehren. Vielleicht sollten die Forscher um Professor Peters mal unter der Theresienwiese buddeln. Da liegen bestimmt nicht nur abgefieselte Hendlknochen vom letzten Oktoberfest, sondern auch edel bestattete Hühner eingelegt in feinstem Balsamico.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMünchner Oktoberfest 2022
:Die Rückkehr der Wiesn

Pandemie, Krieg - und nun Wiesn? Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter erklärt bei einem nahezu staatstragenden Auftritt, warum das Oktoberfest wieder stattfinden soll - ohne Zugangsbeschränkungen.

Von Heiner Effern und Anna Hoben

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: