Es schneit. So viel, wie schon lange nicht mehr. Kein Zug fährt in den Münchner Hauptbahnhof, keiner hinaus. Wegen massiver Schneefälle ist der Zugverkehr "auf unbestimmte Zeit" eingestellt. So steht es auf der großen Anzeigetafel - und auf jeder anderen auch. Immer der gleiche Satz: "Dieser Zug fällt aus."
Auf Gleis 24 steht ein besonderer Zug. Blau, lang und voll mit Menschen. Aber er wird nirgendwohin fahren, auch wenn mit weißer Schrift "Go Ahead" auf der Lok zu lesen ist. Es ist ein Aufenthaltszug, den die Deutsche Bahn (DB) bereitgestellt hat. Für alle gestrandeten Passagiere, die gerade nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Und vor allem: wann.
Carolin, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat die Nacht auf Samstag in diesem Zug verbracht - von dem sie zunächst dachte, er würde sie nach Hause bringen. Die 27-Jährige kommt aus Augsburg, nicht weit weg eigentlich. Und doch wurde in der vergangenen Nacht ein Abteil zum Schlafzimmer, der blaue Polstersitz zum Bett. Nach einem Besuch in München wollte sie am Freitagabend zurück nach Augsburg fahren; dann hieß es, ihr Zug habe 20 Minuten Verspätung. Und nach ein paar Lautsprecherdurchsagen ging schließlich gar nichts mehr.
"Seit ein Uhr nachts sitze ich hier auf diesem Platz", sagt sie. Getränke oder etwas zu essen - gab es nicht. Und auszusteigen, um sich draußen etwas zu holen, das habe sie sich nicht getraut. "Ich hatte Angst, dass der Zug doch noch fährt und ich ihn verpasse." Sie habe dann versucht zu schlafen, warm sei es ja gewesen. Am Montag hat sie Geburtstag. "Bis dahin", sagt sie lachend, "werde ich schon zu Hause sein!".
Der Zug ist voll, die Luft nicht besonders gut. Einige Menschen haben wie Carolin in dem Zug geschlafen, manche wärmen sich nur auf. Und wieder andere rennen und steigen hinein, weil sie denken, dass der Zug doch noch fahren könnte.
Auch Torsten Engelberg, 43, aus München hat das gedacht. Denn laut DB-App sollte auf Gleis 24 am Samstag um 11.03 Uhr planmäßig ein Zug nach Köln fahren. Aber dann fuhr er halt doch nicht. "Es hat mich schon geärgert, dass die Angaben der App einfach nicht gestimmt haben", sagt er. Auch die Durchsagen nützten nur wenig. "Da erfährt man nicht viel." Aber so sei es nun eben - er werde jetzt mit seinen Freunden irgendwo einen Glühwein trinken gehen.
Ganz anders ergeht es Nicole Cooper. Die Britin sitzt mit ihren Freunden neben anderen Reisenden im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofs. Dort, wo die Geschäfte sind, wo Menschen von der S-Bahn kommen, die ebenfalls nicht planmäßig fährt, nur alle 20 Minuten zwischen Leuchtenbergring und München-Pasing.
Nicole Cooper kommt aus Wales. Sie hat Ferien und wollte in Deutschland Christkindlmärkte besuchen. Hat sie auch. Doch jetzt möchte sie nur nach Salzburg, denn von dort startet ihr Flieger nach Hause. "Angeblich soll um 17 Uhr noch ein Zug nach Salzburg fahren", sagt sie und zuckt mit den Schultern. "Ich glaube nicht so recht dran." Was sie dann macht? "Keine Ahnung."
Überall Menschen mit Koffern, überall haben sich Leute auf dem Boden niedergelassen, wärmen sich auf mit Kaffee aus Pappbechern. Oben sei es viel zu kalt, sagt Thomas, 21, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er hat am Freitagabend ausgiebig im Zenith-Club gefeiert. Anschließend strandete er mit seinem Kumpel am Hauptbahnhof. Nach Augsburg will er, wie Carolin aus dem Aufenthaltszug, und muss nun warten, bis wieder was geht. Geld habe er keines mehr, das habe er ja "gestern verheizt". Eine Nacht im Zwischengeschoss? "Schon möglich", meint er.
Aufwärmen, sich waschen - in der öffentlichen Toilettenanlage ist es voll. Lange Schlangen am Drehkreuz, mit Koffern rein und raus. "Ich musste mich mal frisch machen", sagt eine Frau, ihren Namen mag sie nicht sagen. Die 34-Jährige ist Pflegerin und hätte eigentlich morgens in Regensburg zum Dienst antreten sollen. "Habe ich abgesagt, geht ja nichts mehr." Die Flixbusse seien auch voll. Also schaut sie ständig in der DB App nach, ob doch noch ein Zug fährt. "Ich warte noch ein wenig, wenn dann nichts geht, übernachte ich bei meiner Freundin."
Der Laden direkt neben der öffentlichen Toilette ist 24 Stunden geöffnet. Die Fächer mit den frischen Donuts sind bereits leer, dafür gibt es warmen Leberkäs und ausreichend Kaffee. Einen Euro kostet er, diese Woche im Angebot - immerhin das.
Zurück an den Gleisen. Viele möchten nicht aufgeben. Sie stehen vor der Anzeigentafel, studieren die Angaben, blicken in ihr Handy wie in ein Gebetbuch. Einige suchen nach einem Taxi, nach Bussen oder Leihautos. Andere warten einfach.
So wie das Ehepaar, das mittags in einer langen Schlange steht, die sich vor dem DB-Reisezentrum und der DB-Information gebildet hat. Die Menschen wollen wissen, wie es weitergeht. Wollen mit jemandem von der Bahn sprechen. Schaffner oder Bahnpersonal sind nirgendwo zu sehen. "Seit einer Stunde stehen wir hier", sagt der Ehemann, der mit seiner Frau nach Köln will. Urlaub in Kitzbühel hätten sie gemacht, von dort seien sie bereits mit dem Taxi nach München gekommen, weil kein Zug fuhr. "Wir wollen nur wissen, ob noch eine Chance besteht, von hier wegzukommen." Sonst bräuchten sie ein Hotel.
Bis die beiden das wissen, wird es dauern. Und es wird Zeit vergehen, bis alle wieder zu Hause sind. Vor dem Hauptbahnhof liegen zu diesem Zeitpunkt 45 Zentimeter Neuschnee. Und es schneit weiter.