Niko Sucic ist fassungslos, als er den Brief öffnet, der Anfang September in seinem Briefkasten liegt. Ein formelles Schreiben von seinem Vermieter, der Wohnungs- und Siedlungsbau Bayern (WSB). Eigentlich hat Sucic mit einer Entschuldigung gerechnet, einer Mietminderung, für den ohrenbetäubenden Lärm, für den Schmutz und Dreck vor dem neunstöckigen Wohnblock, in dem er lebt. Seit gut einem halben Jahr wird am Stanigplatz gebaut. Zuerst wurde die flache Ladenzeile abgerissen, dann kamen die Bagger und gruben einen gewaltigen Krater. Keine zehn Meter vor seinem Fenster entsteht ein neuer Bau mit 49 Wohnungen und einem Alten- und Service-Zentrum im Erdgeschoss.
Doch von einer Entschuldigung fehlt im Brief jede Spur. Stattdessen wird ihm trocken mitgeteilt, der Auszug aus seiner Wohnung sei unumgänglich. Der "in die Jahre gekommene" Wohnblock an der Paulckestraße 1-9 müsse umfangreich saniert werden, heißt es. Im "bewohnten Zustand" sei das nicht möglich, denn unter dem Fußboden befänden sich Schadstoffe. Welche? Darüber wird im Brief nicht aufgeklärt. Man erfährt hingegen, dass die Arbeiten mindestens zwölf Monate dauern sollen. Man werde Wasser und Heizungen abstellen und Gerüste aufbauen. "Der Zugang zu den einzelnen Wohnungen ist kaum zu gewährleisten. Die Staub- und Lärmbelastung sind enorm und für Sie dauerhaft nicht zumutbar", schreibt die WSB.
Der Brief hat nicht nur den 23-jährigen Sucic erreicht. Er wurde unfrankiert in alle Briefkästen in den Hausnummern 3 und 7 eingeworfen - also bei mehr als 70 Mietern. Bei all jenen in dem Wohnhaus, die in etwa 30 Quadratmeter großen Appartements leben. Die Bewohner der größeren Wohnungen in den drei anderen Hauseingängen seien nicht betroffen. Das erzählt im Treppenhaus Sven Karadi, ein Nachbar aus dem achten Stock. Auch er soll raus. Zwei Tage nach Erhalt des Briefes seien eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter der WSB in seiner Wohnung gestanden. Sie wollten sich erkundigen, ob er das Angebot annehme, das sie in dem Brief unterbreiteten: Wenn er bis Ende Januar 2021 auszieht, bekommt er 5000 Euro, bis Ende März sind es 3000 Euro - danach sollen die Wohnungen leer stehen. "5000 Euro, das ist ein Witz", sagt Karadi. Ein Witz sei auch, dass nach der Hiobsbotschaft ein zweiter Brief kam, mit einer einmaligen Mietminderung für Oktober. Seit Jahren klagen die Nachbarn im Sechzigerjahre-Bau über undichte Fenster, kaputte Heizungen, Taubennester im Hausflur. Das Einzige, worauf man sich verlassen könne, so Karadi, seien überpünktliche Mieterhöhungen.
Niko Sucic will nicht ausziehen. Er weiß nicht, wo er sonst unterkommen soll. Vor vier Jahren kam er als Fußballspieler aus dem kroatischen Split nach Deutschland. Nach einer Verletzung ist er Chauffeur geworden und fährt Kunden in einer Limousine durch München. Jeden Monat schickt er Geld nach Kroatien, um seine Familie zu unterstützen. Geld, das fehlt, wenn er mehr Miete zahlen muss. Immer mehr Nachbarn kommen ins Treppenhaus. Sie sprechen Serbisch, Kroatisch, Italienisch, Bayerisch. Manche haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt, doch Not verbindet. Nachverdichtungen, Sanierungen, Verdrängung von Mietern, all das hat längst das Hasenbergl erreicht. Die Bewohner der Paulckestraße erwischt es mit doppelter Härte - erst die Baustelle vor der Haustüre und nun die Sanierung des eigenen Hauses.
Svetlana Giorgevic lebt mit ihrem Mann seit zwanzig Jahren in einer der Apartmentwohnungen nebenan. Die Rentnerin ist zu 60 Prozent schwerbehindert. Ihr Mann ist 67 Jahre alt und macht Gartenarbeiten auf dem Friedhof. "Wo sollen wir denn eine neue Wohnung finden?", fragt sie verzweifelt. Sie bekomme rund 1000 Euro Rente, davon gehen 217 Euro für die Krankenversicherung ab. "Es ist furchtbar, ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich falle zurück in eine Depression", sagt sie. Ein anderer Nachbar nickt mit leerem Blick. Er ist 64 Jahre und pflegt seine schwerbehinderte und psychisch kranke Frau. Der Arzt habe ihr ein Attest ausgestellt, dass sie unmöglich umziehen könne. "Vielleicht hilft es ja", sagt er. Erst am Vormittag hat er eine ganze Stunde lang versucht, jemanden von der WSB ans Telefon zu bekommen. Vergeblich. Mehr Informationen hätte es vor zwei Wochen per Post geben sollen. Doch gemeldet hat sich bei den Mietern seit den Hausbesuchen Anfang September niemand mehr. "Die Ungewissheit ist das Schlimmste", sagt ein anderer Nachbar.
Durch die geschlossene Haustüre dringt der Lärm von Bohrern und Kreissägen ins Treppenhaus. Bauarbeiter rufen, ein Kran legt neue Gerüste ab. Bauherr vor der Tür ist die Dibag Industriebau AG, die ebenso wie die WSB zur Doblinger-Unternehmensgruppe gehört. Mit fast 14 000 Wohnungen allein in München und mehr als 1700 realisierten Bauprojekten eines der größten Immobilienunternehmen in Bayern. Auf einer Firmen-Website heißt es: "Wir bewirtschaften unseren umfangreichen Wohnungsbestand in Deutschland mit dem Ziel, sozial zu agieren und langfristige Mietverhältnisse zu etablieren."
Dass man mehr als 70 Mieter im Hasenbergl zum Auszug bewegen will, stehe nicht im Widerspruch zur Unternehmensphilosophie, schreibt ein Vertreter der Doblinger-Gruppe auf SZ-Anfrage. Es müssten "notwendige Arbeiten durchgeführt werden, um den Bestand auch zukünftig vermietbar zu erhalten. Hierfür ist es manchmal unumgänglich, die Wohnungen leer zu ziehen." Nach jahrzehntelanger Nutzung und sich häufenden Wasserschäden wolle man die Steigleitungen und Fußböden erneuern, wofür die Apartments leer stehen müssten. Auch Bäder und Küchenanschlüsse sollen modernisiert werden.
Der Mieterverein München hat sich den Brief an die Bewohner auf Anfrage der SZ angeschaut. "Man versucht hier offenbar, die Mieter auf elegante Weise loszuwerden", sagt die Rechtsberaterin Anja Franz, und Geschäftsführer Volker Rastätter rät: "Die Mieter sollten ohne Beratung durch juristische Experten keine Vereinbarungen unterschreiben - etwa dass sie gegen eine Entschädigungszahlung aus ihrer Wohnung ausziehen. Denn der Markt für bezahlbare Wohnungen in München ist leergefegt - es kann passieren, dass diese Mieter auf der Straße landen." Anja Franz verweist darauf, dass "der Brief noch keine offizielle Kündigung ist". Ein Vermieter könne seinen Mietern nicht einfach kündigen, nur um eine Wohnung zu sanieren. Die WSB bestätigt, dass das Schreiben keine Kündigung ist: "Es beinhaltet lediglich das Angebot eines persönlichen Gespräches, um eine einvernehmliche, für den Mieter bestmögliche Lösung zu finden." Ersatz hat die WSB den Mietern nicht angeboten, "da nicht so viele Ersatzwohnungen zur Verfügung stehen und so die Gleichbehandlung aller Mieter nicht gegeben wäre".
Kennt jemand, der seit vier Jahren Deutsch spricht, den Unterschied zwischen einer Aufforderung zum Auszug und einer rechtskräftigen Kündigung? Zieht jemand "einvernehmlich" aus, der Angst vor Schadstoffen hat? Auch der SZ wird nicht mitgeteilt, um welche Schadstoffe es sich handelt. Allerdings seien sie in eingebautem Zustand ungefährlich und "nur in geringem Umfang" in einem Teil der Wohnungen enthalten, heißt es nun bei der WSB. Davon wusste Niko Sucic nichts. Stand nicht im Brief. Als er vor zwei Jahren in seine Wohnung zog, war sie frisch renoviert und mit Laminat ausgelegt. Trotz des Lärms, der Kräne und Leuchtstrahler vor seinem Fenster, der maroden Heizung mag er seine Wohnung und will bleiben. Er sagt: "Wir sind zwar Ausländer, aber auch wir haben Rechte."