Münchner Momente:Der frühe Vogel brüllt herum

Münchner Momente: Haben Vögel eigentlich einen Chef? Den Zaunkönig vielleicht? Eventuell ließe sich mit dem ja in Verhandlungen eintreten.

Haben Vögel eigentlich einen Chef? Den Zaunkönig vielleicht? Eventuell ließe sich mit dem ja in Verhandlungen eintreten.

(Foto: M. Delpho/dpa/dpaweb)

Jetzt starten wieder die Vögel ihren Morgengesang - zu nachtschlafender Zeit, ohne auf die Bedürfnis anderer Zweibeiner Rücksicht zu nehmen. Man sollte in Verhandlungen eintreten.

Glosse von Stephan Handel

Schnee hin, Schnee her, ist ja eh schon wieder fast alles weg. Vielmehr ist, wie in jedem Frühjahr, momentan wieder ein bedenkenswertes Konzert zu beobachten, vielmehr zu belauschen: Zur Stärkung des seelischen Gleichgewichts den Morgen nicht leise und langsam zu beginnen - sondern mit einer kräftigen Schimpfkanonade. Schelten und zetern und schreien und herumbrüllen, das scheint der inneren Hygiene außerordentlich zuträglich zu sein.

Jedenfalls bei Vögeln. Von ihnen ist tagsüber selten etwas zu hören - aber morgens, so gegen vier, halb fünf, Eiseskälte egal, da starten sie ihren Morgenruf, vielstimmig, quadrophonisch und sehr, sehr laut. Dass andere Zweibeiner um diese Zeit noch gerne schlafen würden, ist ihnen egal - sie nehmen sich das Recht des Künstlers, seine Kunst darzubieten, wann und wo es ihm beliebt, und sei es in einem Reihenhausgarten am Rande der großen Stadt. Außerdem müssen sie wahrscheinlich so früh los, weil der frühe Vogel ja bekanntlich den Wurm fängt.

"Vögel sind das Gegenteil von Zeit", hat der französische Komponist Olivier Messiaen geschrieben. Dann hat er sich in die Natur gesetzt mit Bleistift und Notenpapier und hat die Lieder der Vögel aufgeschrieben: der Pirol, das Rotkehlchen, der Teichrohrsänger, der große Brachvogel. Später entstand daraus der "Vogelkatalog", Catalogue d'Oiseaux, ein fast drei Stunden dauerndes Klavierwerk, in dem der Pianist insgesamt 77 Vogelstimmen nachzuahmen hat. Trotz seiner Herkunft wird das Werk, wenn es denn gespielt wird, hauptsächlich abends vorgetragen, eben weil menschliche Konzerte abends in der Philharmonie stattfinden und nicht frühmorgens im Vorgarten.

Haben Vögel eigentlich einen Chef? Den Zaunkönig vielleicht? Eventuell ließe sich mit dem ja in Verhandlungen eintreten, nun, da die Kunstfertigkeiten seines Volkes dokumentiert sind: Die Vögel singen nicht mehr um vier Uhr morgens, und wenn, dann nur noch außerhalb der Stadtgrenzen. Dafür wird in jeder Gemeinde einmal im Jahr der Messiaensche Vogelkatalog aufgeführt, für alle, die das mögen und brauchen. Das Ganze wird natürlich an einem Abend stattfinden, angesichts der Dauer des Stücks aber auch nicht zu spät. 18 Uhr vielleicht, dann können Nachteulen und Morgenlerchen gleichermaßen dabei sein, ganz ausgeschlafen natürlich.

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