Probenbesuch in Berg am Laim:Ein Orchester für alle

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Waldhorn statt Mundharmonika: Der neunjährige Nicolas übt mit seiner Lehrerin Luisanyi del Valle Goméz Zambrano für das Orchester "Consonanza". (Foto: Robert Haas)

Nach einem Vorbild aus Venezuela hat die Münchnerin Constanza Vagnini-Holbl ein Musikprojekt gegründet, bei dem Kinder aus allen sozialen Schichten ein Instrument lernen können.

Von Franziska Gerlach

Als Nicolas im November 2019 zu "Consonanza" kam, wollte er eigentlich Mundharmonika spielen lernen. "Aber die gibt es im Orchester nicht", sagt er. Und darum sitzt der Neunjährige nun mit einem sehr viel größeren Instrument im Arm da. Es erfüllt den Raum mit einem Klang, der im Bauch kitzelt. Nicolas hat sich für Waldhorn entschieden, die Faust im Schallbecher spielt er mit Luisanyi del Valle Goméz Zambrano die Melodie von Star Wars. Sie ist seine Lehrerin und ziemlich stolz auf ihren Schüler. Gleich beim ersten Mal habe er einen Ton herausbekommen, und das sei ja schon was.

Momentan ist das Waldhorn das einzige Blasinstrument bei "Consonanza", dem Kultur- und Sozialprojekt nach Vorbild des 1975 gegründeten Musikförderprogramms "El Sistema" aus Venezuela. In München erhalten aktuell rund 30 Kinder bei sieben Lehrern kostenfreien Unterricht in Geige, Cello, Kontrabass, Bratsche - und eben Waldhorn. Jeden Samstag wird in einem städtischen Wohnprojekt in Berg am Laim geprobt. Der gemeinnützige Verein finanziert sich über Spenden. Mit dem Geld werden nicht nur die Musiklehrer bezahlt, sondern auch Leihinstrumente angeschafft. Allerdings schaue man schon genau hin, ob sich jemand wirklich keines leisten könne, erläutert Constanza Vagnini-Holbl, die Vorsitzende des Vereins. Grundsätzlich stehe das Orchester aber allen offen. Egal, ob jemand aus wohlhabendem Elternhaus stammt oder als Flüchtling an die Isar kam. "Wir wollen den Querschnitt der Münchner Gesellschaft zeigen."

Constanza Vagnini-Holbl hatte die Idee zu dem Musikprojekt, bei dem rund 30 Kinder aus allen sozialen Schichten kostenfrei ein Instrument lernen können. (Foto: Robert Haas)

Ihre Familie zog 1989 von Venezuela nach Deutschland. Vagnini-Holbl hat Sprachwissenschaften und Ethnologie studiert und bei einer Marketing-Agentur gearbeitet. Seit der Gründung des Vereins 2017 hat sie sich bei Stiftungen, Kultur- und Jugendverbänden sowie städtischen Ämtern für die Teilhabe eingesetzt, die mit Consonanza erfahrbar werden soll: Die ersten drei Buchstaben im Namen stehen für "Chor-Orchester-Netzwerk in Deutschland", sie lassen erahnen, dass man noch viel vorhat. Aus dem Streichorchester soll ein Symphonieorchester werden, mit Querflöten, Trompeten, Oboen, Klarinetten, Fagotten. Und ja, natürlich sind auch Konzerte angedacht. Am liebsten auf den schönsten Bühnen der Stadt.

Die zweifache Mutter will Kinder und Jugendliche erreichen, die sonst vermutlich nie ein Instrument zur Hand genommen hätten. Weil zu Hause das Geld fehlt. Oder weil sich niemand in der Familie für klassische Musik erwärmen kann. Oder weil es einfach furchtbar öde ist, im stillen Kämmerlein Tonleitern zu üben. "Bei uns sind die Kinder von Anfang an Mitglied im Orchester, auch wenn sie noch nicht richtig spielen können", sagt Vagnini-Holbl.

Amelie, sechs Jahre alt, hat eine kleine Geige unters Kinn geklemmt. Das Instrument noch etwas höher halten, den Körper aufrecht, erklärt ihr der sechzehnjährige Andrés. Das Mädchen ruckelt auf dem Stuhl nach vorne, überprüft die Bogenhaltung, uff, das ist schon ein großer Moment, wenn man das erste Mal in einem Orchester spielt. Am Dirigentenpult hat sich Jose Jesus Olivetti in Position gebracht, der die jungen Musiker einen Rhythmus klatschen lässt, ehe sie sich an eine vereinfachte Version von "Te Deum" von Marc-Antoine Charpentier machen.

Nach dem Einzelunterricht proben die Kinder dann gemeinsam eine vereinfachte Version von "Te Deum" von Marc-Antoine Charpentier. (Foto: Robert Haas)

Alles wirkt irgendwie lebendiger, als man sich die Vermittlung von Klassik dem Klischee nach vorstellt. Ein Orchester, dessen Mitglieder sich in den Pausen auf den Gängen kabbeln. Mit Proben, in denen auch gelacht werden darf. In der letzten Reihe trägt Nicolas jetzt einen Hut zum Waldhorn, auch Goméz Zambrano hat ihr Instrument ausgepackt. Dass auch die Lehrer mitspielen, gehört genauso zum Konzept wie sich gegenseitig zu helfen.

Die Idee zu Consonanza kam der Münchnerin Vagnini-Holbl während eines Konzerts des Simón Bolivar Symphony Orchestra of Venezuela, dem führenden Orchester des venezolanischen Musikförderprogramms. 2016 war das, und Vagnini-Holbl fragte sich, warum es dieses Orchesterprojekt, das Kindern aus allen Schichten den Zugang zur Musik ermöglicht, nicht auch hier gibt. Doch als sie mit einem befreundeten Musiker darüber sprach, meinte der: In München hätten die Kinder doch eh so viele Freizeitaktivitäten. Selbst ihre Eltern, die "El Sistema" in Venezuela kennengelernt hatten und heute tatkräftig mitarbeiten im Verein, seien skeptisch gewesen. Tja, falsch gedacht: Nachdem eine Stiftung zwölf Geigen finanzierte, startete im März 2019 der Unterricht. Einen Monat später ging es mit Cello los, dann folgte Kontrabass. Ein gutes halbes Jahr später stieß Nicolas am Waldhorn dazu.

"Ich würde gern mehr Mädchen für Kontrabass begeistern", sagt Vagnini-Holbl. So ein großes Instrument muss man sich freilich zutrauen. Doch das gemeinsame Musizieren mache nicht nur selbstbewusst, es vermittle auch Werte wie Teamgeist, Geduld und Rücksichtnahme. Auch die Konzentrationsfähigkeit verbessere sich. Zu diesen Ergebnissen sei auch eine Zulassungsarbeit im Fach Musikethnologie an der Münchner Musikhochschule gekommen, deren Verfasserin das Projekt über einige Monate hinweg begleitet hatte. Kira, zehn Jahre alt, interessiert sich wenig für die Resultate solcher Studien. Dafür umso mehr für ihr Cello: Auf das Griffbrett hat sie Punkte geklebt, gelb, blau, rot. So sieht sie, wo die Finger die Saiten drücken müssen. Klar, üben müsse man natürlich, sagt sie. "Aber es hat ja so einen schönen Klang."

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