Deutschlands älteste Straßenzeitung:"Einmal Biss, immer Biss"

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Die ehemalige Ballett-Tänzerin Andrea Schönle arbeitet seit sieben Jahren als Biss-Verkäuferin - hier steht sie an der Münchner Freiheit. (Foto: Florian Peljak)

Seit 30 Jahren will die Straßenzeitung Menschen in Armut eine Stimme geben und Verkäuferinnen und Verkäufer in den Arbeitsmarkt integrieren. Warum manche aber gar keinen anderen Job mehr machen wollen.

Von Nils Frenzel

An einem nasskalten Vormittag steht eine zierliche Frau am Ausgang der U-Bahn an der Münchner Freiheit und lächelt die Menschen an, die sie im Vorbeigehen ignorieren. Ihre linke Hand hat sie tief in die gefütterte Seitentasche ihrer Winterjacke geschoben und in der rechten Hand hält sie die aktuelle Ausgabe der Straßenzeitung Biss. Zwei handschuhlose Finger umgreifen die Zeitung von vorne, ihr Daumen stützt das dünne Heft von hinten. An die Jacke der Frau ist ein laminierter Ausweis geklipst. Die Frau heißt Andrea Schönle und ist angestellte Verkäuferin bei Biss, der ältesten Straßenzeitung Deutschlands, die heuer ihr 30-jähriges Bestehen feiert.

Die erste Ausgabe von Biss erschien im Oktober 1993. Waren die Verkaufszahlen der ersten Ausgaben noch überschaubar, liegt die monatliche Auflage heute bei etwa 41 000 Exemplaren. Biss, das Kürzel steht für "Bürger in sozialen Schwierigkeiten", beschäftigt in München um die 100 Verkäufer. Inhaltliche Schwerpunkte der Zeitung bilden vor allem soziale Themen. Dabei versteht sich das Projekt nicht nur als Straßenzeitung, sondern auch als Lobby für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen. Mit dem Heft soll vor allem ein Bewusstsein für die Belange Obdachloser und von Armut betroffener Menschen geschaffen werden. Ein Bewusstsein, das durch die Verkäufer auf die Straßen Münchens getragen wird. Sie sind das Gesicht von Biss.

56 Verkäufer in Festanstellung

Die Inhalte kommen dabei weniger von den Verkäufern als von einer festen Redaktion. Bei Straßenzeitungsprojekten ist das kein ungewöhnlicher Ansatz. Seit deren Bestehen werde darüber diskutiert, welches Konzept das richtige sei, erklärt Geschäftsführerin Karin Lohr. Sollten Verkäufer in alle Produktionsschritte der Zeitschrift eingebunden sein oder genügt es, wenn sie eine von Profis hergestellte Zeitschrift verkaufen und sich damit neue Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt eröffnen?

Eine Zeitung für die "Begegnung von Mensch zu Mensch": Biss-Chefin Karin Lohr in der Geschäftsstelle an der Metzstraße. (Foto: Florian Peljak)

In München hat man sich für einen Mittelweg entschieden. Zur Teilhabe und Mitgestaltung der Zeitung lädt eine wöchentliche Schreibwerkstatt am Dienstag ein. Auch Andrea Schönle hat bereits mehrfach für Biss geschrieben. In ihrem jüngsten Text ging es um einen gemeinsamen Urlaub mit ihrem Arbeitskollegen, mit dem sie dessen kroatische Heimat besucht hat.

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Menschen, die bei Biss arbeiten, seien oft von Armut bedroht oder stammten aus prekären Arbeitsverhältnissen, sagt Lohr. Die Zeitung erhält keine staatlichen Zuschüsse, sondern finanziert sich aus Verkauf und Anzeigen. Auch Bußgelder, die von Richtern und Staatsanwälten sporadisch dem Projekt zugesprochen werden, dienen neben Spenden der Finanzierung. Das Geld soll dabei hauptsächlich den Mitarbeitern zugutekommen, pro verkaufter Ausgabe geht die Hälfte des Verkaufspreises, 1,40 Euro, direkt an sie.

Seit 1998 bietet Biss als einzige Straßenzeitung in Deutschland auch Anstellungen an. Mittlerweile beziehen 56 Verkäufer ein festes Gehalt. Für Lohr eine wichtige Hilfestellung, um Menschen wieder dauerhaft in einen Arbeitsmarkt zu integrieren. "Die Festanstellung bietet eine ganz andere Verbindlichkeit", sagt sie. "Sowohl für uns als auch für die Verkäufer." Durch Sozial- und Transferleistungen seien die Menschen abhängig vom Staat. Die Festanstellung sei die beste Möglichkeit, sie wieder an ein selbst bestimmtes Leben heranzuführen.

Nur sonntags frei

Verkäuferin Andrea Schönle erzählt von ihrem Leben vor Biss. Im Alter von vier Jahren fing sie an, Ballett zu tanzen. Erst als Hobby, dann professionell in verschiedenen Ensembles. Es folgten weltweite Auftritte. Nach der Bühnenkarriere hielt sie sich mit Aushilfsjobs, die durch Zeitarbeitsfirmen vermittelt wurden, über Wasser. Das ging solange gut, bis in einem Winter ihr Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde. In ihrer Ratlosigkeit erinnerte sie sich an eine Straßenzeitung, die sie auf dem Weg zur Arbeit gekauft hatte. Sie rief bei Biss an und wurde selbst Verkäuferin.

Das war vor sieben Jahren. Heute ist sie immer noch dabei und arbeitet fast täglich, nimmt sich immer nur den Sonntag frei. Gegen die Kälte und den Arbeitsdruck hilft ihr die Erfahrung aus den kräftezehrenden Ballett-Auftritten der Vergangenheit. "Man muss den Willen bewahren", sagt sie in unüberhörbar schwäbischem Akzent. An der U-Bahnstation schwärmt sie vom Zusammenhalt in der Straßenzeitungsszene. Einen anderen Job will sie heute nicht mehr machen. Sie sagt: "Einmal Biss, immer Biss."

In Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 30 Straßenzeitungsprojekte. Die Idee dazu stammt aus den USA. 1989 wurde in New York die Streetnews gegründet. Fünf Jahre später schlossen sich die ersten Straßenzeitungen zusammen zum International Network of Streetpapers (INSP). Biss war Gründungsmitglied. Heute verbindet der Verband mit Sitz in Glasgow mehr als 100 Straßenzeitungen in mehr als 40 Ländern und fördert neue Projekte in Entwicklungsländern.

INSP-Sprecherin Colleen Tait betont, dass der Verkauf von Straßenmagazinen auch im internationalen Maßstab weit mehr als ein bloßes Einkommen für die Verkäufer bedeutet. Durch die Straßenzeitung entstehe ein freundschaftliches Netzwerk hilfsbedürftiger Menschen, die sich gegenseitig stützen und austauschen. Außerdem helfe der Verkauf, Armut sichtbar zu machen. Persönlich geschriebene Berichte in den jeweiligen Zeitungen würden ungehörten Stimmen einen Platz in der Öffentlichkeit geben. Eine These, die Karin Lohr in München bestätigt: "Die Idee von Biss ist es, dass man diese Zeitung kauft und so eine Begegnung von Mensch zu Mensch stattfindet."

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