Pilze:"Eine Strahlenbelastung von mehreren Röntgenuntersuchungen"

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Der Maronenröhrling gilt als stärker belastet als etwa Steinpilze oder Pfifferlinge. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Der Radioaktivitätsexperte Hauke Doerk warnt auch 36 Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl vor verseuchtem Wildbret und Pilzen. Welche Arten sind besonders betroffen?

Interview von Thomas Anlauf

Am 26. April 1986 explodierte Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Eine riesige radioaktive Wolke zog in den folgenden Tagen nach Westen, ein großer Teil ging nach heftigen Gewittern vor allem in Süddeutschland, auch im Raum München nieder. Damals gründete sich das Umweltinstitut München, um die Bevölkerung über die Strahlenbelastung insbesondere von Lebensmitteln zu informieren. Heute ist der Physiker Hauke Doerk der Fachreferent für Radioaktivität beim Umweltinstitut.

SZ: Herr Doerk, die Atomkatastrophe von Tschernobyl war nach nun 36 Jahren fast aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Nun haben russische Truppen den havarierten Reaktor in der Ukraine wochenlang besetzt, die Mitarbeiter als Geiseln genommen. Wie gefährlich war oder ist die Situation dort aus Ihrer Sicht?

Hauke Doerk: Es gab ja einen Stromausfall und dort sind Brennstäbe gelagert. Die sind aber mehr als 20 Jahre alt, wenn dort das Kühlwasser verdampft, würde es eher zu einem lokalen Problem kommen. Soweit ich weiß, ist in dem Reaktor auch kein Brand ausgebrochen. Allerdings gibt es immer wieder Meldungen, dass die russischen Soldaten dort nicht ausreichend Schutzkleidung hatten und möglicherweise hoher Strahlung ausgesetzt waren.

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Das bedeutet, die Katastrophe von Tschernobyl würde sich so nicht wiederholen, trotz des Angriffs auf das Atomkraftwerk?

Wenn dort der Sarkophag beschädigt würde, wäre das natürlich ein Riesenschaden. Die Reaktorteile muss man ja fachgerecht abbauen und lagern, die Sicherung des Reaktors ist zudem extrem aufwendig und teuer. Aber eine nukleare Katastrophe droht eher durch noch laufende Anlagen. In der Ukraine steht ja mit Saporischschja das größte Atomkraftwerk Europas. Es gilt für jedes Atomkraftwerk: Für Krieg sind die AKWs nicht ausgelegt, da ist die Gefahr besonders groß.

Wer Pilze sammelt, kann sie beim Umweltinstitut auf Radioaktivität untersuchen lassen. Hauke Doerk ist dort Strahlenexperte. (Foto: Umweltinstitut München)

Nach dem Fallout waren auch in Bayern Wälder und Wiesen radioaktiv verseucht. Damals gründete sich das Umweltinstitut München. Was war damals der Beweggrund?

Als sich die Katastrophe ereignet hat, gab es viele widersprüchliche Informationen und auch viele Desinformationen. Wir haben deshalb mit radioaktiven Messungen begonnen und machen das bis heute. Wer Pilze sammelt, kann diese bei uns auf Radioaktivität untersuchen lassen. Die Ergebnisse veröffentlichen wir online.

Die Strahlenbelastung ist ziemlich unterschiedlich. Woran liegt das?

Es gab ja beim Fallout heftige Gewitter in Süddeutschland, die zum Teil sehr lokal waren. Betroffen sind bis heute etwa der Raum München, Berchtesgaden und die Region Augsburg. Dazu kommt, dass in Wäldern, wo man Pilze sammelt, die radioaktiven Stoffe länger in der Biosphäre bleiben als auf Feld oder Wiese. Das liegt zum einen am relativ geschlossenen Stoffkreislauf im Wald, aber auch daran, dass der Waldboden nicht so stark ausgewaschen wird. Zudem nehmen verschiedene Pilzsorten das Radionuklid Cäsium 137 verschieden stark über ihr Myzel aus dem Waldboden auf. Ein weiterer Effekt ist, dass Tonböden von Äckern das Cäsium chemisch binden.

Noch ist ja keine Schwammerlsaison, aber welche Pilze sind denn besonders belastet?

Maronenröhrlinge sind zum Beispiel stärker belastet, der Semmel-Stoppelpilz sogar sehr stark, Steinpilze und Pfifferlinge (Reherl) weniger stark. Wildschweine können sehr viel stärker verstrahlt sein als Pilze. Eigentlich müssen die Tiere nach ihrer Strahlenbelastung untersucht werden. Es gibt ja den Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm, darüber dürfen Lebensmittel nicht verkauft werden. Besorgniserregend ist es, wenn für den privaten Verzehr die Messung umgangen wird. Wir vom Umweltinstitut finden ohnehin, dass der Grenzwert zu hoch angesetzt ist.

Wie viel Wildschwein mit Wildpilzen darf ich denn nun essen?

Na ja, bei einer Portion würde ich persönlich mir noch keine Sorgen machen. Zu viele Sorgen sind ja auch nicht gesund. Aber grundsätzlich gilt natürlich, jede zusätzliche Radioaktivität, die wir aufnehmen, erhöht das Risiko an Krebs zu erkranken. Wer über das Jahr regelmäßig Wildschwein mit erhöhten Dosen isst, kann eine Strahlenbelastung von mehreren Röntgenuntersuchungen an der Lunge davontragen.

Noch einmal kurz zurück zur Weltpolitik und Russland: Angesichts der Abhängigkeit von Öl und Gas aus Russland fordert unter anderem Ministerpräsident Markus Söder eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Was spricht denn dagegen?

Es spricht so viel dagegen! Mit jedem Tag, an dem ein Atomkraftwerk länger läuft, steigt das Risiko für einen Störfall. Außerdem leistet so ein Kraftwerk gar nicht einen so großen Beitrag zur Energiewende und ist sehr teuer. Das Geld bräuchten wir dringend für die erneuerbaren Energien. Eine Atomdebatte blendet die Herausforderungen der Energiewende, vor denen wir stehen, nur aus.

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