Da drüben, neben dem Imbissstand. Der junge Mann in der auffälligen roten Jacke. Wäre bei ihm was zu finden? Polizeiobermeister Frank Vogel wiegt nachdenklich den Kopf. Was sagt ihm sein in fünf Jahren Einsatz am Hauptbahnhof geschultes Gefühl, was heißt überhaupt Gefühl - wo sich doch jetzt alles so schnell verändert hat? Wenn es eben nicht mehr nur die alte Drogenszene gibt, die seit Jahren Abhängigen, die sich im Schatten des "Schwammerl" genannten Bahnhofsvordachs treffen, saufen und auch mal herumschreien oder untereinander handgreiflich werden.
Sondern auch diese neue, noch kaum berechenbare Szene, kleine Grüppchen junger Männer, für die der Hauptbahnhof ein Magnet ist, weil sie glauben, dort mit Drogendeals schnelles Geld zu machen. "Wenn der Rauschgift dabei hätte, würde er jetzt, wo er uns sieht, stiften gehen", ist der junge Bundespolizist nach einigem Überlegen überzeugt.
Und dann erzählt Vogel, wie er in Zivil unterwegs war und selbst von einem Dealer angesprochen wurde. So wie die Reporterin eines Fernsehmagazins, die am Hauptbahnhof drehen wollte. Oder wie die jungen Leute auf Klassenfahrt, die nur schnell hinüber in ihr Hostel wollten.
So wie Gerhard Berkofsky, stellvertretender Leiter des Rauschgiftkommissariats 83: "Das passiert uns regelmäßig." Artur Mitterer, Vize-Chef der Polizeiinspektion 16 am Bahnhof, sagt: "Sie müssen hier nur stehenbleiben und den Geldbeutel auffällig auf- und zuklappen..." Die "Fronthändler", wie sie im Kriminaljargon heißen, sind bei Tag und Nacht da. 20, 30 Beschwerden von Touristen und Ladenbetreibern hat die Polizei zuletzt bekommen. Eine Häufung, aber nicht wirklich viel. "Die Leute sind leiderprobt", sagt Berkofsky.
Mitterer dreht eine Runde um den Hauptbahnhof, deutet da auf ein Plakat, greift dort prüfend hinter eine Werbetafel aus Aluminium. Es sind die Drogenbunker der Dealer. Jede Mauerritze, jedes Verkehrsschild kann ein solches Versteck sein. Oder der Alte Botanische Garten, wo Drogenermittler am vergangenen Wochenende 29 Plomben mit Rauschgift fanden.
Geschäfte werden über Handy vereinbart
Die Händler haben nur wenig Stoff dabei, aus Furcht vor Kontrollen. Sie bahnen Geschäfte per Handy an. Und sie teilen sich die Arbeit: Einer schafft den Kontakt, einer übergibt den Stoff, einer passt auf, einer spielt die Bank.
Vor allem auf der Bahnhofsüdseite zwischen Intercity-Hotel, Burger King und "Esspunkt" stehen sie beisammen, oft landsmannschaftlich sortiert. Sie kommen aus Mali, dem Senegal, Somalia, Eritrea, Nigeria und sie sind jung. Oder noch jünger und aus Syrien, dem Irak, Tunesien, Algerien oder Marokko.
Also Flüchtlinge? Berkofsky nickt. Fast 500 Dealer haben die Polizisten des Münchner Drogendezernats, der Einsatzhundertschaft und der Inspektionen im Bahnhofsviertel in den vergangenen zwei Jahren überführt. Und fast alle waren Asylbewerber, die Hälfte von ihnen gar nicht aus München, sondern aus Unterkünften im weiteren Umland, aus Petershausen, Miesbach, Holzkirchen. "Wir sehen die, bei denen die Integration nicht greift", sagt Berkofsky.
Und dann betont er, was ihm dabei sehr wichtig ist - "bitte schreiben Sie das": dass nämlich der Umkehrschluss absolut nicht zutrifft. Dass es die wenigen schwarzen Schafe unter den Flüchtlingen sind. In dieser Woche erst sei er mit seinen Leuten in einer Wohngruppe aufgetaucht, wegen eines solchen schwarzen Schafs. "Die anderen acht waren superhöflich, lauter engagierte junge Leute in der Ausbildung", sagt der Kriminalpolizist. "Die nehmen dich dann zur Seite und sagen über ihren Mitbewohner: "Warum nehmt ihr ihn nicht endlich mit, wir wollen den nicht haben."
In diese neue Szene reinzukommen sei außerordentlich schwierig, sagt Berkofskys Chef Andre Remy. Der Polizeioberrat leitet das Kriminalfachdezernat 8 im Polizeipräsidium, zuständig für alle Formen der Rauschgiftkriminalität. Die Szene: keine feste Struktur, große Fluktuation - ziehe man einen der Dealer durch Festnahme und Haftstrafe aus dem Verkehr, sei am nächsten Tag ein anderer da.
Und: "Das Aussageverhalten tendiert gegen Null", sagt Berkofsky. Er macht den Job schon seit 24 Jahren. Die neue Szene am Hauptbahnhof schottet sich ab, verschließt sich auch Einsichten, die andere längst haben: dass straffrei oder mit geringerer Strafe davonkommt, wer auspackt. Berkofsky hat das alles schon einmal erlebt, Anfang der Neunzigerjahre.