Los geht's an der Schwelle zum Wahnsinn. Die erste Szene des Films - untertitelt mit dem Warnhinweis "Explicit Kayaking!" - zeigt einen Kajakfahrer in der Totalen, am point of no return, diesem Moment, wenn unter der Bootsspitze nur noch Luft ist. Im nächsten Augenblick geht es abwärts, senkrecht: freier Fall ins schaumige Weißwasser. Vom Kajakfahrer erstmal keine Spur. Aber die sind später noch oft genug im Bild. Sagen Sätze wie "Wen die Götter lieben, dem geben sie ein Kajak" oder stellen sich die rhetorische Frage "Wie bescheuert muss man eigentlich sein, um da runter zu fahren?" Wenn am heutigen Freitagabend bei den Münchner Bergfilmtagen im Forum2 des Olympiadorfs der Film "Pioniere, Legenden und Helden des Wildwassersports" von Olaf Obsommer läuft, sollten Laien besser eine Begleitung mitbringen, die einem nach Onboard-Aufnahmen von der Befahrung spindeldürrer Schluchten oder einer Tiefschneesause im Kajak die runtergeklappte Kinnlade wieder schließt. 76 Minuten Mundstarre: Wie sieht das denn aus?
Andrea Kaspers dürfte der Streifen höchstens ein mildes Lächeln ins Gesicht zaubern. Die 33-Jährige, die beim Deutschen Patentamt für externe Personalgewinnung zuständig ist, gehört schließlich zu den Protagonistinnen des Films, war sie doch unlängst noch die erste und bislang einzige Präsidentin dieses recht speziellen Vereins namens AKC: Alpiner Kayak Club. Im Februar vergangenen Jahres feierte er 50-jähriges Bestehen, wobei: So spießig, dass man einen runden Geburtstag zum Anlass für eine zünftige Party braucht, sind sie beim AKC dann auch wieder nicht, im Gegenteil. "Für unsere Treffen müssen wir schon schauen, dass wir einen Campingplatz finden, der uns noch aufnimmt", erzählt Kaspers, "da haben frühere AKC-Mitglieder ihren Teil dazu beigetragen, dass wir nicht überall willkommen sind..."
Ein Blick auf die herrlich knapp gehaltene Website vermittelt einen Einblick in das, was man anderswo Vereinsleben nennen würde. Beim AKC klingt das so: "Wir betreiben keine kommerziellen Tätigkeiten - wir paddeln. Wir organisieren regelmäßige Treffen, nicht in Kneipen sondern nahe am Bach. Wir unterstützen Expeditionen und entwickeln Sicherheitsstandards. Wir starten Aktionen gegen die Zerstörung der Bäche. Und wir haben viel Spaß." Auch schön: die Satzung. "Der Alpine Kajak-Club hat keine Satzung! Wozu auch? Er hat stattdessen einen Präsidenten. Der Präsident koordiniert alle Aktivitäten des Clubs. Er wird alle zwei Jahre neu gewählt: eine Wiederwahl ist ausgeschlossen! Da uns jedes Mitglied präsentabel erscheint, reichen die Kandidaten für die nächsten 900 Jahre im voraus; wir brauchen also nicht auf ,verschlissene' Präsidenten zurückgreifen. Der Auserwählte hat für die Dauer seiner Amtszeit alleinige Entscheidungsbefugnis." Wer auch nur ein Mikrogramm Sinn für Ironie sowie für Freiheit & Abenteuer hat, möchte da doch sofort Mitglied werden - wenn nur die Wildwasserei nicht wäre!
Zwei Jahre führte Andrea Kaspers mit Lena Grüb als erste weibliche Doppelspitze den rund 350 Mitglieder starken Verein, der ohne Clubhaus auskommt und gar kein richtiger Verein sein will. Noch ein Zitat von der Homepage, weil's so schön ist. Es geht um die Mitgliedsbeiträge, die dank der Bemessungshilfe 'Jahreseinkommen dividiert durch 1000' ermittelt werden. Zitat: "Es wird nur einmal gemahnt. Danach wird der Säumige gestrichen. Endlose Mahnungen und viel Bürokratie passen nicht zu uns." Ex-Präsidentin Kaspers sagt: "Es ist eher eine Gemeinschaft als ein Verein." Im Grunde bestehe der Klub aus einer inoffiziellen Kontaktliste, zwei festen Treffen im Jahr und einem verpflichtenden Safety-Update: Erste Hilfe, verschiedene Rettungssituationen, Wurfsack werfen und Verklemmungssituationen üben. "Das war ja der ursprüngliche Gedanke bei der Gründung des Clubs: mehr Sicherheit!", erzählt Kaspers.
Denn dass es um die in den frühen 70ern nicht gut bestellt war, wird im Film auf beklemmende Weise ein ums andere Mal deutlich. Ein Veteran sagt in die Kamera: "Es hat überhaupt keinen Spaß gemacht, zwei Mal im Jahr auf die Beerdigung von Kameraden zu gehen." Ein anderer erinnert sich "an eine Stelle, wo zehn Krokodile gleichzeitig reingesprungen sind. Wir sind nur noch um unser Leben gepaddelt - Lukas hat's leider nicht geschafft". Klubmitglied Jochen Schweizer, der mit Extremsport aller Art später ein florierendes Unternehmen bestreiten sollte, beschreibt die Anfänge so: "Das war die Zeit, in der wir crazy waren, einen Nagel im Kopf hatten und einfach aus dem Vollen gelebt haben." Und weiter: "Es gibt rationale Ängste, die machen Sinn. Die meisten Ängste hindern uns aber daran zu sein, wie wir geboren sind: nämlich frei zu sein, raus in die Welt und in die Abenteuer zu ziehen."
Mehr als einmal musste sich der AKC den Vorwurf anhören, er verführe Leute, ihr Leben zu riskieren. Dabei gehen zig Erfindungen und Entwicklungen in Sachen Sicherheit auf das Konto des Klubs. Auch deshalb wurde einer der Gründerväter, der heute 84-jährige Holger Machatschek, 2021 in die International Whitewater Hall of Fame aufgenommen. "Das ist wie eine olympische Medaille", sagte er in der Dankesrede. 1980 hatte er sich ein 2,20 Meter kurzes Kinderboot aus England bestellt, um auszuprobieren, ob man damit Wildwasser fahren könne. Zuvor waren die Cracks in vier Meter langen und 30 Kilo schweren Ungetümen aus Glasfaser und Epoxid-Harz unterwegs, die bei einem sogenannten Stecker nicht selten zum Sarg wurden. Ein junger Athlet, der heute mit einem modernen, 2,40 bis 2,80 Meter langen Boot ins Wildwasser geht, sagt über die Vorgänger, die mit Motorrad- oder Eishockeyhelm ins Boot stiegen: "Die müssen ja Eier wie Melonen haben! Dass die überhaupt laufen können!"
Auch mit modernem Material fährt der Tod immer mit.
Doch auch mit modernem Material fährt der Tod immer mit. Andrea Kaspers musste das schon mit ansehen. Bei einem Kajak-Urlaub in Ecuador war sie auf den AKC gestoßen, als sie der damalige Präsident ansprach: "Ihr fahrt gut genug, fahrt doch mal die Qualifikation mit!" Er meinte die Aufnahmeprüfung, das sogenannte Rissbachfliegen, ein wilder Ritt durch eine Klamm zwischen Hinter- und Vorderriss. Wer Videos davon googelt, dem wird schon vom Zusehen übel. Andrea Kaspers fand das "aufregend. Lena und ich standen lange da und haben anderen zugeschaut, Stelle für Stelle, bis wir sagten: 'Okay, wir machen's!' Wir sind super unten angekommen, gleich noch ein paar Mal gefahren und im November 2016 dem AKC beigetreten". Drei Jahre später war sie wieder beim Rissbachfliegen - es sollte das letzte Mal sein.
Ein Aufnahmeprüfling war in einer Unterspülung umgekippt und lange unter Wasser gewesen - zu lange: Nach drei Wochen auf der Intensivstation starb er. "Seitdem gibt es das Safety-Update", erzählt Kaspers. Per Springer-Sicherung habe man versucht, den Ertrinkenden zu retten: "Ein Springer mit Schwimmweste springt rein, wird an einem Wurfsack festgemacht und versucht dann unter Wasser irgendwas zu greifen ..." Seit dem tödlichen Unfall gibt es auch ein neues Aufnahmeritual: die Wellerbrücke auf der Ötztaler Ache. Im Auge des Laien: kein Stück besser, also weniger gefährlich. Kasper sagt: "Die Grenzen werden immer höher, das Niveau zieht an - und damit die Gefahr." Wie sie mit der alptraumhaften Situation am Rissbach umgegangen ist? "Man schaut sich die Stellen dann schon genauer an und überlegt: Kann ich das? Will ich das? Was ist die größtmögliche Konsequenz? Gehe ich das Risiko ein? Zur Not trägt man die Stelle und steigt danach wieder ein." Hashtag Selbsteinschätzung. Wer glaubt, dem Gruppenzwang folgen zu müssen, lebt gefährlich.
Andrea Kaspers kommt vom Squirt Boating, dabei versucht man, Tricks unter Wasser zu machen
Ironischerweise kommt Kaspers von einer Wettkampfform, bei der man sich möglichst viel unter Wasser bewegt: Squirt Boating, eine Spielart des Freestyle-Kayaking. "Man versucht sich in einem Boot mit ganz wenig Volumen unters Wasser zu schrauben und dort Tricks zu machen", erklärt Kaspers, die in dieser absurden Disziplin Vierte bei der Europameisterschaft wurde, zudem Dritte bei der Junioren-EM im Freestyle-Kayaking und 19. bei der Weltmeisterschaft. Aber als der Deutsche Kanuverband die finanzielle Unterstützung einfror, wandte sich die gebürtige Bonnerin dem Wildwasser zu. Und nachdem der AKC-Aufkleber schon ein paar Jahre auf dem Auto pappte ("Das ist wie ein Gütesiegel. Man weiß direkt: 'Ah, der kann's!'"), entschloss sie sich 2020 mit ihrer Mitstreiterin für das Präsidentenamt zu kandidieren - ein Prozedere, das natürlich ebenfalls geregelt ist: "Alle zwei Jahre findet beim Pfingsttreffen der sogenannte Konvent statt, auf dem ein neuer Präsident gewählt wird. Das Grillfest findet an einem Wochenende statt, wobei am Samstag zu Grillfleisch und anderen Köstlichkeiten ein, zwei Fässchen Bier gezapft werden. Dazu Gruselgeschichten von Walzen, Löchern und ungeheuren Apparaten. Top 5 der Tagesordnung: eine dynamische, ermüdungsfreie Rede des Präsidenten. Dauer: circa 2 Minuten."
Das Macho-Rudel wählte das Damen-Duo in den Vorstand
Und tatsächlich wählte das Macho-Rudel das Damen-Duo: "Manche waren nicht ganz so glücklich, dass wir gewählt wurden", erinnert sich Andrea Kaspers. "die Befürchtung war: 'Hoffentlich gibt's noch genug Bier und Grillfleisch!' Das Feedback danach war aber positiv: "Wir haben's ziemlich gut gemacht, hieß es - und sind jetzt im wohl verdienten Ruhestand", sagt sie und muss selbst lachen. Denn ihr Ruhestand sieht so aus, dass sie im Dezember nach Sambia an den Sambesi fliegen wird - mit das Übelste, was man in Sachen Wildwasser anstellen kann. Also genau richtig für ein AKC-Mitglied.