Die Botschaft ist eindeutig. Michael Jackson schaut mit seinem lieblichen Photoshop-Gesicht von einem eingeschweißten Foto auf dem Promenadeplatz, über seinem Mund ist ein Balken quer gelegt.
Darauf steht: "Innocent". Dass diejenigen, die am Samstagnachmittag die Gedenkstätte mit frischen Blumen schmücken, den Musiker verteidigen, ist nicht sehr überraschend. Spannender ist, was die Passanten zu den aktuellen Vorwürfen gegen den vor zehn Jahren verstorbenen Musiker Michael Jackson sagen.
Nena Akhtar, eine Frau Mitte 40, packt Windlichter und Blumensträuße aus Plastiktüten, drei weitere Helferinnen kommen dazu. Seit Jackson im Juni 2009 gestorben ist und sich seine Münchner Fans spontan hier trafen, pflegen Akhtar und ihre Mitstreiter das zu einer Jackson-Litfasssäule umgestaltete Orlando di Lasso-Denkmal auf dem Promenadeplatz. Akhtar zeigt noch einmal hoch in den dritten Stock des Hotels Bayerischer Hof. Dort hat er immer gewohnt, deshalb traf man sich hier in der Nacht von Jacksons Tod. Seitdem war Akhtar "mindestens zweitausend Mal" hier, hat die Bilder wieder aufgestellt, Batterien an Lampen gewechselt, Blumen gegossen. Und in diesen Tagen kommen zwei Dinge zusammen, weshalb der Fanklub das Memorial, an dem laut Akhtar "mindestens zweihundert" Bilder aufgestellt und aufgeklebt sind, sich besonders viel Mühe gibt, den Ort herzurichten.
Zum einen ist das Denkmal ein Programmpunkt in vielen Reiseführern geworden, gerade erst kam an diesem grauen Samstagnachmittag eine Gruppe aus 50 Touristen vorbei. Frühjahrsputz ist also angesagt. Zum anderen geht es aber in diesen Tagen natürlich um die Dokumentation "Leaving Neverland", die zuletzt auf dem amerikanischen Bezahlsender HBO lief und in der zwei Männer, die als Kinder zeitweise sehr viel Kontakt zu Jackson hatten, berichten, dass sie systematisch missbraucht worden seien. Das war Ende Februar. Seitdem wird hitzig diskutiert und argumentiert.
Es geht um die Frage, ob man die Musik eines Musikers noch hören darf, der eventuell ein schweres Verbrechen begangen hat. Manche Radiosender haben in einer ersten Reaktion Jacksons Musik aus ihrem Repertoire verbannt. Eine Passantin, 53 Jahre alt, schaut sich das Denkmal an und beobachtet die schmückenden Frauen. "Darf man sich jetzt über Billie Jean noch freuen?", fragt sie sich. Es gehöre doch irgendwie zu ihrem Leben dazu. "Ich werde es weiter hören, ich mobbe ihn nicht."
Ihn mobben. Manche haben diesen Eindruck, auch wenn die beiden Protagonisten der Dokumentation, Wade Robson und James Safechuck, offenbar glaubwürdig vom Missbrauch berichten. Aber wenn eine Passantin im zweiten Satz davon spricht, dass sie Jackson nicht mobben werde, dann ist auch klar, wie emotional und aufgeladen das Thema ist - sogar für daherspazierte Passanten. Ein paar Schritte weiter betrachtet Antje Fahrenkrog aus Wertheim das Denkmal und die Frauen, die mit Tesafilm Bilder neu befestigen. "Wenn die Vorwürfe wirklich beweisbar wären, dann wäre es eine andere Situation", sagt sie. "So ist es ganz schön schwierig." Robson und Safechuck, die für Michael Jackson ausgesagt haben, erklären nun das Gegenteil in der HBO-Dokumentation. Für Akhtar ist die Sache klar.
"Ich bin seit 40 Jahren Fan, ich habe zwei Kinder und ich würde sagen, dass sexueller Missbrauch ein noch schlimmeres Verbrechen als Mord ist", sagt sie. "Aber ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass er unschuldig ist." Sie habe jetzt wieder nächtelang recherchiert, so wie sie damals die beiden Prozesse gegen Jackson, einer endete mit einem Vergleich, der andere mit einem Freispruch, verfolgt habe. "Ich sehe das als einen einseitigen Angriff auf einen Toten, der sich nicht mehr wehren kann." Ihr Zorn sprudelt nur so aus ihr heraus, "es gibt keine Beweise, das FBI hat Neverland auf den Kopf gestellt damals". Akhtar hat ihre eigene Theorie: "Robson hat damals unter Eid ausgesagt, dass Jackson ihn nie berührt hat, Robson ist als Künstler gescheitert und will sich jetzt rächen." Solche Mutmaßungen sind allerdings genau das, was sie selbst kritisiert an dem Fall: eine öffentliche Anschuldigung ohne Beweise.
Der Münchner Bodo Bleinagel schreibt Ende der Woche in einem Leserbrief an die SZ: "Das von Michael-Jackson-Devotionalien überzogene Denkmal für Orlando di Lasso am Promenadeplatz dient allein dem Personenkult des dubiosen Stars und sollte kurzfristig und definitiv davon befreit werden." Die Stadtverwaltung mache sich durch anhaltendes Lavieren in dieser Angelegenheit lächerlich.
Auf die Idee, das Denkmal zu entfernen, kommt am Samstagnachmittag bislang noch niemand. Die Passanten sind vor allem interessiert und fasziniert, wenn sie vorbeigehen. Drei Männer schauen sich die Jackson-Fotos an. "Man sieht ihn ja in allen Farben", sagt einer und meint die im Laufe seines Lebens immer hellere Hautfarbe. "Er war schon auch eine arme Sau, mit dem Vater." Der schlug den jungen Jackson. "Innocent? Das ist schon mutig, das zu behaupten, denn das wissen die ja auch nicht", sagt sein Begleiter zu den Frauen, die das Denkmal schmücken. Eine hat sich extra ein T-Shirt übergezogen, auf dem steht "Facts don't lie, people do" steht und "Innocent".
"Es gilt noch immer die Unschuldsvermutung", sagt einer der drei Männer, die sich einig sind: Sie hören selbstverständlich weiter die Musik des "King of Pop". "Wir stellen Künstler immer auf einen Sockel. Warum kann man nicht einfach die Kunst akzeptieren und ansonsten den Mensch Mensch sein lassen?" Wie viele Künstler hätten Dreck am Stecken gehabt, fragt einer. Deren Kunst müsste man dann gänzlich verbieten?
Innocent? Unschuldig? Auf einem Bild ist in schwarz-weiß das Cover zu Jacksons letztem Solo-Album zu sehen. Das Album heißt "Invincible", unbesiegbar. Zumindest für seine Musik scheint das zu gelten.