Kritik:Empfindsamkeit sezieren

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Ohne Kulisse, konzentriert auf die Körper: Micha Puruckers neues Tanzstück. (Foto: Franz Kimmel)

Micha Puruckers neues Tanzstück "100.80.40 - rats in the living room" im Schwere Reiter setzt auf das Nebeneinander starker Stimmungen.

Von Rita Argauer, München

Die Bühne im Schwere Reiter ist leer. Weiße Wände, weißer Boden, keine Kulissen, die Türen zur Hinterbühne sind geöffnet, alles suggeriert eine maximale Offenheit. Einzig eine beinahe giftig grün leuchtende Topfpflanze und ein Zerrspiegel richten den Raum irgendwie ein. Das ist aber auch egal, denn für diese Requisiten interessiert sich in Micha Puruckers "100.80.40 - rats in the living room" sowieso keiner der Tänzer.

Die Zahlen beziehen sich auf Jubiläen um Pasolini, Jarman und Fassbinder. Doch der Untertitel des Stücks ist eigentlich viel treffender: "études pathétiques". Studien über Empfindsamkeit also. Im semantischen Schwingungsraum von Beethoven über die Romantik bis hin zur stilisierten und dekonstruierten Melodramatik jener drei Filmemacher, die als Inspiration für den Abend dienten.

Micha Purucker arbeitet dafür mit kleinen und kleinsten Zellen tänzerischen Ausdrucks. Insgesamt sieben Tänzerinnen und Tänzer zeigen den in unterschiedlichen Formationen. Zuerst noch verhalten. Michal Heriban bewegt sich schräg über die Bühne, wankelmütig, ein Schritt vor, einer seitlich, ein halber zurück. Einzelne Körperteile entkoppeln sich vom Rest - für Purucker typisch - lassen den restlichen Körper immer etwas gehemmt erscheinen. Bis Heriban dann posend wie ein Rockstar in der Tür zur Hinterbühne verschwindet. Polina Sonis bleibt im Türrahmen stehen, lehnt dort lässig, blickt ihm nach zur Musik, die über einem Grundrauschen klingt, als würde sie ständig zwischen verschiedenen Radiofrequenzen wechseln.

Keine Stimmung darf lange bleiben, alles vermischt sich

Die Musik oder besser der Score, gestaltet von Robert Merdzo, ballert durchgehend und unerbittlich eklektisch. Keine Ruhe, keine Stimmung darf lange bleiben, alles vermischt sich zu einer verlorenen Anti-Klimax-Dramaturgie. Die einzelnen Stimmungen sind stark, aber völlig unangebunden aneinander und so auch ohne emotionalen Boden. Es bleibt so kühl wie die harten Schnitte zwischen den Szenen, die menschlichen Zustände tauchen auf wie Blitzlichter.

Ein Paar tanzt im Galopp, beschwingt wie im 19. Jahrhundert über die Bühne. Dann werfen sich zwei Menschen aggressiv und hemmungslos übereinander. Musik und Beleuchtung gehen diese Stimmungen mit. Warmes Licht, der sexy Groove einer Surf-Gitarre - Cut - ein elektronischer Rhythmus, leer, dystopisch, kaltes Licht. Am Ende kommt der Countertenor und Kammersänger Christopher Robson in großer Robe wie Elizabeth I. auf die Bühne, performt playback aber salbungsvoll zum Song "Stormy Weather".

Micha Purucker schafft Wiedererkennbares, emotional und visuell. Aber ohne den Kitsch einer Replik. Dafür ist der Umgang damit viel zu beiläufig. Darin liegt die Stärke, aber auch die Schwäche des Stücks. Denn diese Beiläufigkeit überträgt sich auch aufs Publikum.

100.80.40 - rats in the living room, noch am Sonntag, 15. Januar, 20.30 Uhr, Schwere Reiter

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