Lesung:Fremde Frauen

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Matthias Politycki ist fasziniert von anderen Kulturen und fühlt sich im alten Europa immer weniger heimisch. (Foto: Heribert Corn)

Matthias Politycki sieht sich bedroht von woken Sprechverboten. Sein neuer Roman "Alles wird gut" duckt sich nicht vor heiklen Themen: ein Road-Trip durch Äthiopien kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges.

Von Christian Jooß-Bernau

Und dann geht sie einfach um den Nissan Patrol, öffnet die Tür und setzt sich neben Trattner: Natu, die Frau mit dem zur Hälfte abgerissenen Ohr. Die Frau, der er zum ersten Mal in Surma Kibish begegnete. Die sich dort nicht aus der Kneipe werfen lassen wollte und fürchterlich verprügelt wurde. "Alles wird gut", heißt der neue Roman von Matthias Politycki - im drohenden Untertitel: "Chronik eines vermeidbaren Todes". Erzählt wird eine Reise durch Äthiopien, kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2020.

Auf der Rückbank sitzt Josef Trattner, der gerade seinen Job als Ausgrabungsleiter eines Stelenfeldes bei Aksum verloren hat - ein Wiener Hallodri, der sich auf diesen Posten mit Beziehungen gemogelt hatte, nicht unsympathisch, nur etwas unsolide. Die letzte Fahrt durch Äthiopien, durch die Gebiete unterschiedlicher und meist verfeindeter Volksgruppen, ist für ihn reine Freude am Abenteuer, bei dem er sich von Weraxa und Mulugeta begleiten lässt. Der erste verscheuerte die Ausgrabungsgegenstände, der zweite ist auch im Schleuserbusiness tätig und transportiert sonst Deserteure der eritreischen Armee.

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Neben Trattner sitzt mit Natu das Gestalt gewordene Fremde, eine Frau von tiefgreifend verunsichernder Rätselhaftigkeit. Zwischen den beiden entsteht eine Nähe, die keiner so recht einordnen kann - oder will, weil in dieser Uneindeutigkeit alles möglich scheint. Einen eisernen Armreif trägt sie, eine Ula, eine tödliche Waffe in den Donga-Kämpfen. Später wird sie erzählen, von Missbrauch, ihrem Aufbegehren, ihrer Gewalt. Opfer und Täterin - Gewissheit löst sich auf in der Sprache.

2022 hat Matthias Politycki ein Debattenbändchen veröffentlicht: "Mein Abschied von Deutschland" heißt es, im Untertitel: "Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede". Der Schriftsteller war von Hamburg nach Wien übersiedelt. Deutschland ist für ihn im Klammergriff der "Wokeness" einer gegenaufklärerischen, ja reaktionären Bewegung, der er "quasireligiösen Welterlösungsfuror" attestiert. Nicht nur die Arbeit als Schriftsteller sieht er bedroht, nein, unsere Gesellschaft als solche. Literarische Bojen auf dem Weg in den Untergang sind ihm die Klassiker dystopischer Literatur: "1984", "Schöne neue Welt" und "Fahrenheit 451".

So liest man auch den neuen Roman, erschienen im deutschen Verlag Hoffmann und Campe, vor dem Hintergrund der unbändigen Furcht, nicht mehr sprechen zu dürfen. Gegendert wird nicht, die nicht mehr so neue Rechtschreibung mag Politycki immer noch nicht, und sein ganz eigenes Gefühl für die Rhythmik von Sätzen setzt er auch um. Wird kulturell angeeignet?

Das Fremde darf fremd bleiben

Die Stimme des Erzählers widersteht der Versuchung, in die Köpfe der Äthiopier zu kriechen. Soundtrack im Nissan ist ein Jazz-Sampler vom Schwarzmarkt als tönende Erinnerung an westlichen Lebensstil: "Buschsavanne mit Saxophonsolo." Das Fremde darf für diesen Erzähler, der vieles ahnt und manches begreift, fremd bleiben und muss sich nicht auflösen. Politycki ist ein erfahrener Reisender, hat Äthiopien in der Zeit, in der sein Roman spielt, selber besucht. Bei Dimeka erlebt Trattner das Ritual des Bullensprungs, in dessen Rahmen Frauen Peitschenhiebe ertragen müssen. Die aber sind allem Anschein nach nicht Bestrafung, sondern stärken das soziale Gefüge. Bei Wokisten, so wie sie sich Politycki ausmalt, dürfte das für kognitive Dissonanz sorgen.

In der Erinnerung besteht derweil die alte Welt weiter. Hier lebt in Wien Trattners Lena, einst zur zweiten Stellvertreterin im Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen gewählt. Sexismus und Mansplaining warf sie Josef danach vor. "Er konnte denken und sagen und tun, was er wollte, für Lena war er von vornherein im Unrecht." Und dann erwischt sie der so Gekränkte auch noch mit einem Kurti, der die Dinge mit den Fäusten klärt und für den sie sich glatt in ihr schwarzes Stretchkleid zwängt. Das Äthiopien, das Politycki beschreibt, seine Völker, kommt einem im Vergleich um einiges komplexer vor als die emanzipierte Lena, die sich eigentlich einen starken Macker wünscht - was, mal ganz woke dahingesagt, eine Fantasie aus der Grabbelkiste weißer Cis-Männer ist.

"Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes", Lesung mit Matthias Politycki, Mittwoch, 24. Mai, 19 Uhr, Literaturhaus (Bibliothek), literaturhaus-muenchen.de

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