Literatur:"Ich wollte die Ohnmacht nicht akzeptieren"

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Der Nahostkonflikt ist Teil von Joana Osmans Leben. Sie kennt den Hass, das Leid - und gründete die Friedensbewegung "Peace Factory". Sie macht Feinde zu Freunden, auch in ihrem Roman.

Von Martina Scherf

Einen Feind zum Freund zu gewinnen, ist der revolutionärste Akt, den man sich vorstellen kann. Er kann dein Leben verändern. Er hat mein Leben verändert." Joana Osman hat diesen Satz schon oft gesagt, und er verfehlt nie seine Wirkung. Sie hatte nie Feinde. Aber sie hat eine palästinensische Familie, und damit ist der Nahostkonflikt Teil ihrer DNA. Das Freund-Feind-Denken hat viele ihrer Begegnungen bestimmt - bis sie beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wenige Tage vor der Frankfurter Buchmesse sitzt die 37-Jährige in ihrem Lieblingscafé, Brown's Tea Bar, in der Münchner Maxvorstadt auf einem senfgelben Plüschsessel. Vor ihr liegen ihr Laptop und ihr erster Roman. Sie hat ihn hauptsächlich in diesem Café geschrieben.

"Am Boden des Himmels" (Hoffmann&Campe) lautet der Titel, und auch wenn nichts Autobiografisches darin vorkommt, wie sie betont, hat das Buch doch viel mit ihrem eigenen Leben zu tun.

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Denn die Geschichte handelt von einem Wunder. Ein palästinensischer Teenager in Israel hat besondere Fähigkeiten. Er ist ein Außenseiter, sensibel, klug und naiv zugleich. Mit fast kindlichem Gemüt bringt er Menschen immer wieder dazu, sich für einen Moment lang durch die Augen des Feindes zu betrachten. Als er wegen Terrorverdachts verhaftet wird, singt er im Gefängnis Lieder. Es dauert nicht lange, da bezeichnen ihn die einen als Engel - und andere reizt seine Sanftmut bis aufs Blut. Draußen beginnt die dritte Intifada. Steine fliegen, Panzer rücken an. Da verbinden sich eine arabische Journalistin, ein verliebter Israeli und ein gewiefter Junge, um dem Engel zu helfen. Es ist ein modernes Märchen.

"Ich glaube an Wunder", sagt Joana Osman. Sie trägt Jeans und eine weiße Bluse, wirkt selbstsicher und empathisch. "Natürlich nicht im religiösen Sinn", sagt sie nach einer kurzen Pause. "Aber haben wir nicht in diesem Sommer erlebt, dass ein kleines Mädchen aus Schweden einfach durch ihre Ruhe und Präsenz von den einen fast als Heilige verehrt wird und von anderen Morddrohungen erhält?"

Sie glaubt an die Wunder, die sie selbst erlebt hat, sagt sie und klappt ihren Laptop auf. Auf der Homepage thepeacefactory.org, die sie zusammen mit dem israelischen Grafikdesigner Ronny Edry gegründet hat, finden sich Fotos von Menschen, die an den Frieden glauben. Zwei Frauen, eine Palästinenserin mit Kopftuch und eine Israelin mit schwarzen Locken, lachen sich an. Ein junger Künstler aus Bagdad schreibt: "Ich will nur noch eins: weg von den Explosionen." Eine Iranerin breitet vor einem gemalten Wolken-Graffito die Arme aus und schreibt: "Der Wandel hat begonnen." Es sind Menschen, die Osman und Edry zusammengebracht haben, wenigstens virtuell. Manche auch ganz real. Bis dahin war es aber ein weiter Weg.

Joana Osman ist 1982 in München geboren, als Tochter einer Deutschen und eines Palästinensers. Die Eltern hatten sich in München kennengelernt und nach dem Studium zwei Jahre in Bagdad gelebt. Der Vater war Ingenieur, er starb, als Joana ein Baby war. "Er ist die große Lücke in meinem Leben", sagt sie. Eine Lücke, die es irgendwann zu schließen galt, so gut das eben ging.

Ihre Mutter hielt Kontakt zur Familie ihres Mannes, die, wie viele palästinensische Familien, in alle Welt zerstreut ist. Der Großteil lebt aber im Libanon. Nakba, die Katastrophe von Flucht und Vertreibung nach der Staatsgründung Israels 1948, ist bis heute das Trauma des palästinensischen Volkes. "Fast jede Familie hat damals Vater, Mutter, Sohn oder Tochter verloren, und dieses Trauma wird bis heute von Generation zu Generation weitergegeben", sagt Joana Osman. "Auch ich wuchs mit diesem Schmerz auf." Jedes Mal, wenn sie mit ihrer Mutter die Familie im Libanon besuchte, war der Konflikt mit Israel Thema.

"Fast jede Familie hat damals Vater, Mutter, Sohn oder Tochter verloren"

Palästinenser im Libanon sind meist staatenlos, Flüchtlinge auf Lebenszeit. Was das bedeutet, schildert Osman am Beispiel eines Cousins. Weil er einen palästinensischen Vater und eine libanesische Mutter hat, bekommt er keinen Pass. "Wäre es umgekehrt, könnte er reisen."

Joana Osman ist ein Teenager, als sie das erste Mal die Verwandten im Libanon besucht. Sie wird mit offenen Armen empfangen. Die arabische Gastfreundschaft ist überschwänglich, ständig wird gegessen, geredet, gelacht. Sie lernt Arabisch, taucht ein in den Kosmos ihrer riesigen Verwandtschaft. Im Sommer 2006, während des Libanonkriegs, telefoniert sie täglich mit ihrer Cousine. "Ich hörte durchs Telefon die israelischen Bomben", erzählt sie. "Wenn du die Nachrichtenbilder siehst und weißt, die eigene Familie könnte jeden Moment sterben, macht einen das ohnmächtig", sagt sie. "Ich wollte diese Ohnmacht nicht akzeptieren." Sie wollte aber auch nicht dem Hass folgen, der die Menschen in Nahost seit Generationen auffrisst.

Sie studiert in München nordamerikanische Literaturgeschichte und Theaterwissenschaften, belegt Kurse in kreativem Schreiben und fährt in den Ferien 2011 das erste Mal mit einem Teil der Familie an die israelisch-libanesische Grenze. Ein Zaun trennt die verfeindeten Länder. Auf der einen Seite stehen UN-Soldaten, auf der anderen israelische Soldaten und Panzer. "Du kannst die Spannung dort körperlich spüren." Sie wirft zum ersten Mal einen Blick auf Israel, die Heimat ihrer väterlichen Familie. "Das war ein seltsames Gefühl. Ich hatte noch nie mit einem Israeli gesprochen. Ich wusste nicht, wie sie über Krieg oder Frieden denken, wie sie über Menschen wie mich denken. Ich wäre am liebsten über den Zaun gestiegen und hätte mit den Leuten geredet."

Ein knappes Jahr später, die Bilder lassen sie nicht los, entdeckt sie die Facebook-Seite "Israel loves Iran". Sie staunt: Da tauschen sich wildfremde Menschen aus verfeindeten Ländern aus. Sie schreibt dem Initiator Ronny Edry, es beginnt ein intensiver Austausch, per Facebook, per Skype. Ein Jahr später fliegt sie nach Israel, um Ronny und seine Frau zu besuchen. Gemeinsam bringen sie das Projekt voran. Ableger werden gegründet "Israel loves Palastine", Iraner gründen "Iran loves Israel", Joana Osman gründet "Palastine loves Israel" und gemeinsam schaffen sie "The Peace Factory".

Plötzlich ist das verfeindete Volk nicht mehr eine gesichtslose Masse: auf der Facebook-Seite erscheinen Gesichter, jedes mit einer persönlichen Geschichte. "Da funktioniert dann das Täter-Opfer-Schema nicht mehr", sagt Joana Osman.

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Sie bekommen Antworten aus aller Welt. Menschen erzählen sich ihre Lebensgeschichten, teilen ihre Ängste und Hoffnungen. Einer schreibt einem Juden: "Als Iraner sollte ich dich hassen, aber ich kenne dich ja gar nicht!" Amerikaner melden sich, die mit Irakern reden wollen, Israelis, die ein palästinensisches Mädchen kennenlernen wollen. "Während des israelischen Angriffs hat Ruth, meine israelische Freundin, mich jeden Tag kontaktiert. Ich hatte das Gefühl, sie sorgt sich mehr um mich als jede Regierung", schreibt Rami, 33, aus Gaza.

Manche sagen: Wir sollten uns endlich treffen, von Angesicht zu Angesicht. So beginnen Osman und Edry, Workshops an unterschiedlichen Orten zu veranstalten. Sie laden Menschen ein, setzen sie in einen Raum und lassen sie miteinander sprechen. Sie moderieren diese Gespräche, versuchen, politische Debatten zu verhindern.

"Es geht um Storytelling, um die privaten Geschichten, um Gefühle und Empathie. Das ist nicht immer einfach", erzählt Osman. "Es ist kein Spiel. Wir arbeiten in einem Feld, das vermint ist, emotional beladen mit Dekaden von Leiden, Frustration, Hirnwäsche. Es gelingt nicht immer, da rauszukommen."

Israelis hätten ihr bei einem Workshop in Tel Aviv gesagt: Toll, was ihr da macht, aber die Palästinenser werden nie unser Trauma durch den Holocaust verstehen. Und Palästinenser hätten festgestellt: Gute Idee von euch, aber Israelis werden nie unseren Schmerz und unser Leid begreifen. Mag sein, erwidert sie, aber sie verstehen eure Familiengeschichte. "Und dort, wo das gelingt, bringt es eine spürbare Veränderung", erzählt sie jetzt im Café, während sie durch die Fotos von den Workshops scrollt. "Du kannst es an ihren Gesichtern ablesen." Man sollte das auch mit Politikern machen, sagt sie. Einmal haben sie Benjamin Netanjahu zu einem Workshop eingeladen - "natürlich kam keine Reaktion", erzählt sie.

Dann kommt der nächste Krieg, Sommer 2014, Raketen der Hisbollah greifen Israel an, Israel lässt Gaza bombardieren. Ein junger Mann schreibt, seine ganze Nachbarschaft wurde zerbombt, und in Großbuchstaben: "WHY?"

"Er hatte noch nie einen Israeli getroffen", erzählt Osman, "und fragte: Sind das überhaupt Menschen?" Innerhalb von einer Stunde bekommt er 50 Antworten von Israelis. Sie schreiben ihm: Wir haben auch Angst. Wir wollen diesen Krieg auch nicht. Es tut uns so leid. "Dieser junge Mann wurde ein Friedensaktivist", erzählt Osman und lächelt bei dem Gedanken.

"Wir können nicht die Welt ändern. Aber wir können unsere Umgebung verändern."

Einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder der Peace Factory. Sie haben schon Workshops und Vorträge in Tel Aviv, Jerusalem, in Paris, München und Chicago gehalten. Sie waren an der Universität in Vancouver eingeladen und haben mit jüdischen und palästinensischen Studenten gearbeitet. "Die waren vorher immer wieder aufeinander los gegangen, am Ende haben sie zusammen eine Party gefeiert."

Frieden ist nicht das Ende des Krieges, sagt Joana Osman. Er beginnt, wenn die Menschen aufhören, von zwei Seiten zu sprechen und stattdessen Individuen wahrnehmen. So ähnlich steht das auch in ihrem Roman. Sie lehnt sich zurück und blickt nach draußen in die Türkenstraße, wo an diesem Vormittag ein leiser Nieselregen die Straßen glänzen lässt. Es sind noch kaum Gäste in Brown's Tea Bar, nur die Kaffeemaschine zischt gelegentlich. Osman mag diesen Ort, "er ist ruhig und ich bin trotzdem unter Menschen."

Sie unterrichtet Storytelling an einer privaten Hochschule in München und arbeitet als Coach. Immer wieder hält sie auch Workshops mit Deutschen und Flüchtlingen. "Ich bin nicht naiv", sagt Osman, "wir können nicht die Welt ändern." Auch kostet ihr Engagement Kraft, Zeit und Geld, denn die Projekte finden bis jetzt selten Sponsoren. "Aber wir können unsere Umgebung verändern. Indem wir Menschen mit Interesse und Freundlichkeit begegnen, in der Schule, am Arbeitsplatz, auf der Straße."

Osman blickt ihr Gegenüber mit großen Augen an: "Stellen Sie sich vor", sagt sie, "jeder Palästinenser hätte einen Freund in Israel. Jeder US-Amerikaner hätte eine Freundin in Iran. Jeder Deutsche hätte einen Freund in Nigeria. Können Sie sich vorstellen, was das bewirken würde?"

Joana Osman liest am Dienstag, 22. Oktober, um 19.30 Uhr in der Amore Bar, Adalbertstraße 23, aus ihrem Roman "Am Boden des Himmels".

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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