Unterhaching:Allein auf der Flucht

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Nur Fotos und Nachrichten übers Handy bleiben der 16-jährigen Aml aus Syrien, um mit ihrer Familie in Griechenland in Kontakt zu bleiben. (Foto: Claus Schunk)

Die 16-jährige Aml aus Syrien kam vor zwei Jahren nach Deutschland. Mittlerweile lebt sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Unterhaching. Doch ihre Eltern und ihre kleine Schwester stecken weiter in Griechenland fest. Das Mädchen ist hilflos.

Von Christina Hertel, Unterhaching

In Amls Schreibtischschublade liegt ein Fotoalbum. Voll mit Bildern ihrer großen Schwester: im weißen Hochzeitskleid, im roten Ballkleid mit hochgesteckten Haaren, geschminkten Augen. Wenn Amls Sehnsucht zu groß wird, packt sie dieses Album aus. Seit fast zwei Jahren hat die 16-Jährige ihre Schwester nicht mehr gesehen. Genauso wie ihre Mutter, ihren Vater und die kleine Schwester. Sie stecken fest, in Griechenland.

Aml, das spricht man Amal. So heißen in ihrer Heimat Syrien viele. Kein Problem, wenn das in der Zeitung steht, sagt sie. Aber ihren Nachnamen will Aml lieber nicht verraten. 2014 flüchtete ihre ganze Familie von Syrien in die Türkei. In die Schule konnte Aml dort nicht mehr gehen. Das Geld war von nun knapp. Ihre Eltern verdienten ab und zu etwas mit Gelegenheitsjobs, manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger und manchmal bekamen sie gar nichts. Genug für die Flucht nach Europa kam nicht zusammen - zumindest nicht für alle. Nur für einen reichte es. Und die Familie entschied, dass Aml gehen sollte. Damit sie bald wieder eine Schule besuchen kann, ein normales Leben führen. Also machte sie sich auf den Weg über den Balkan nach Deutschland - zusammen mit ihrer Tante und ihrer Cousine.

Eine Botschaft in Kinderschrift

Ihre neue Heimat ist Unterhaching, in einem Haus, sechs Stockwerke hoch, mit Balkonen und einer Schaukel vor der Haustür. Seit November lebt Aml dort, sie teilt sich ein Zimmer mit ihrer Cousine. "Mariam wir vermissen dich" steht auf einem weißen Blatt Papier in Kinderschrift. Ehemalige Klassenkameraden aus Baden-Württemberg schrieben das ihrer Cousine. Dort war die Familie zunächst angekommen. "Aml wir vermissen dich" steht nirgends. Sie habe keine Freunde, erzählt die 16-Jährige. Weil sie in Ruhe gelassen werden will. Vielleicht auch, weil sie nicht will, dass ihr jemand zu nahe tritt.

Aml trägt ein weißes Kopftuch, schwarze Jogginghosen. Sie lacht viel, wirkt selbstbewusst. Am Tisch im Wohnzimmer sitzen ihre Tante, ihr Onkel, ihre Cousine. Sie kann am besten Deutsch und übersetzt die Fragen ins Arabische. Anders als der Rest ihrer Familie ist Aml noch nicht als Flüchtling in Deutschland anerkannt. Ihr Verfahren läuft noch. Dass es länger als bei den anderen dauert, liegt daran, dass erst geklärt werden musste, wer Amls Vormundschaft übernimmt.

Vor etwa einem Jahren brachen auch ihre Mutter, ihr Vater und ihre kleine Schwester von der Türkei auf und kamen in Griechenland an. Für sie war die Flucht dort zu Ende. Der Weg, den Aml genommen hatte, durch Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland, blieb ihnen verschlossen. Seitdem leben sie in einem Lager bei Athen. Und Aml kann nichts tun, kann sie nicht zu sich holen. Denn die deutschen Behörden sind für so einen Fall gar nicht zuständig. Ihre Eltern müssen in Griechenland eine Familienzusammenführung beantragen. Aml sagt, das hätten sie gleich getan, als sie in Griechenland ankamen. Sie hätten auch einen griechischen Anwalt eingeschaltet. Doch passiert ist seitdem nichts. Wie es ihren Eltern geht? "Schlecht", sagt das Mädchen bloß. Und dann: "Es ist kalt, sie haben nicht viele Decken." Zu essen gebe es auch nicht genug. Seit einer Woche hat Aml von ihren Eltern nichts mehr gehört. Telefonieren klappt sowieso nur selten, wenn dann schreiben sie Nachrichten über Whatsapp. Und gerade funktioniert nicht einmal das.

Ein letzter Besuch bei der Mutter

Ihrem Onkel Ahmad, bei dem sie in Unterhaching wohnt, geht es ähnlich. Auch er hat seine Mutter schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist ebenfalls aus Syrien geflohen, lebt jetzt nahe der Grenze in der Türkei. Ahmad schickt ihr, immer wenn es geht, Geld für Medikamente. Sie ist 73, hat offene Füße, Diabetes und Herzprobleme. "Sie fragt mich immer: Kommst du noch einmal, bevor ich sterbe?", sagt Ahmad. Es fällt ihm schwer, das alles zu erzählen. Er stockt, sucht nach den richtigen Wörtern, spricht dann aber doch weiter. Um seiner Mutter diesen Wunsch zu erfüllen, habe er schon mehrmals ein Visum für die Türkei, beantragt. Geklappt hat es nie.

Ahmad arbeitet als Maler in einer kleinen Firma. Im Monat verdient er 1200 Euro - für vier Personen in Landkreis München zu wenig. Dass er arbeitet und trotzdem auf Geld vom Staat angewiesen ist, dass er jeden Tag acht Stunden unterwegs ist, aber seine Wohnung nicht bezahlen kann - Ahmad macht das traurig. Früher hat er es doch auch geschafft, seine Familie zu ernähren. Jetzt kommt er sich vor wie ein Versager. Gleichzeitig fragt er sich: "Warum geht es mir gut? Und meiner Mutter schlecht?" Seine Frau serviert arabischen Kaffee in feinen Porzellantässchen. Dazu gibt es Schokoladengebäck. Ahmad nimmt nichts. Aml auch nicht. Alle schweigen, niemand weiß, was man noch sagen soll. Und dann erzählt Aml doch weiter und sieht plötzlich gar nicht mehr so traurig aus.

Sie sagt, dass sie viel lernen müsse, dass ihr ein paar Mal in der Woche eine Lehrerin bei den Hausaufgaben helfen würde. Wenn alles erledigt ist, schreibt Aml Geschichten. Über Prinzessinnen und Zwerge, Wunderblumen und Steine, die Wünsche erfüllen können. Nachts, sagt sie, müsse sie manchmal weinen, weil sie ihre Eltern so sehr vermisse. Schlimm ist die Ungewissheit. Nichts machen zu können. Nur warten. Wie lange dauert es, bis sie ihre Mutter, ihren Vater wiedersieht? Monate? Jahre? Sie weiß es nicht und niemand kann ihr eine Antwort geben.

© SZ vom 16.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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