Bundestagswahl im Landkreis München:In Schieflage

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Der Landkreis München zählt zu den kaufkräftigsten in ganz Deutschland. Doch auch hier gibt es Armut. Corona hat die Probleme verstärkt. Sozialverbände sehen die kommende Bundesregierung in der Pflicht.

Von Irmengard Gnau

Mehr als 350 000 Menschen leben im Landkreis München, und der Großteil von ihnen lebt hier gut. Die meisten verfügen über mindestens ein Auto - gut 307 000 Fahrzeuge sind in den 29 Kommunen angemeldet - , viele wohnen im Eigenheim; der Landkreis bietet einiges an Infrastruktur, um die ihn andere Kreise beneiden, es gibt viel Grün und schöne Badeseen, in den vergangenen Jahren wurden eifrig neue Schulen gebaut; nominell betrachtet steht fast jeder und jedem ein Arbeitsplatz zur Verfügung. Gleichzeitig blicken Eltern im Landkreis mit Sorge auf den 14. September, wenn das neue Schuljahr beginnt und sie ihre Kinder mit neuen Ranzen, Schulheften, Sportschuhen oder Winterjacken ausrüsten müssen. Alleinerziehende fragen sich, wie sie ihren Jüngsten die Fußballschule fürs Vereinstraining finanzieren können. Und auch viele ältere Landkreisbürger prüfen lieber zweimal, ob der Mantel nicht doch noch eine Saison hält.

Auch wenn es angesichts der Spitzenplätze, die München-Land regelmäßig in den Rankings um die kaufkräftigsten Regionen der Republik belegt, leicht aus dem Blickwinkel gerät, gibt es auch in diesem reichen Landkreis Armut. Allein an den sieben Tischen der Caritas versorgen sich jede Woche etwa 1200 Menschen mit Lebensmitteln. Denn das Leben hier ist eben auch: ziemlich teuer. Und wie die Zahlen zeigen, gibt es Gruppen, die wesentlich leichter Gefahr laufen, mit sehr wenig Geld auskommen zu müssen. Das sind insbesondere Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern, aber auch Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss, Sprachdefiziten oder mit Migrationshintergrund tun sich laut der jüngsten Sozialraumanalyse des Landkreises von 2018 schwerer, ein Einkommen zu erwirtschaften, dass sie das gute Leben der übrigen teilen lässt.

"Die Leute kommen zu 80 Prozent zu uns, weil sie kein Geld haben."

Wie weit ist es also her mit der sozialen Gerechtigkeit im Landkreis München? Und was muss sich politisch ändern, wenn die Schere zwischen Reich und Arm sich wieder schließen soll? Diese Frage stellt sich im Hinblick auf die Bundestagswahl im Landkreis ganz besonders. Denn hier sind die Gegensätze oftmals besonders scharf. Gerade in den vergangenen Monaten, als die Corona-Pandemie das Land in einen Ausnahmezustand versetzt hat, haben die Beratungsstellen im Landkreis registriert, wie sich die Situation verschärft. "Die Leute kommen zu 80 Prozent zu uns, weil sie kein Geld haben", sagt etwa Matthias Hilzensauer.

Er führt die Geschäfte der Caritas-Dienste im Landkreis München und erlebt in den Beratungsstellen, wie schnell materielle Not das ganze Leben einschränkt, trotz aller bestehenden staatlichen Hilfen. "Wir haben im Landkreis München die höchste Förderstufe bei Arbeitslosengeld und Hartz IV deutschlandweit, aber die Sätze reichen nicht für eine soziale Teilhabe", sagt er. "Bei uns verhungert keiner, aber wenn sie mal ins Kino gehen wollen, Freunde auf ein Bier treffen oder ihren Kindern im Schwimmbad Pommes gönnen, dafür reicht es nicht."

Auf diese Weise gefährdet materielle Armut, etwa nach einem Jobverlust, auch die sozialen Beziehungen. Zwar hat Hilzensauer zuletzt eine Besserung beobachtet, weil das Amt zum Beispiel den Vereinssport für Kinder armer Familien finanziert. Doch hier liegt oft ein großes Hemmnis: Um die Fördermöglichkeiten, auf die man Anspruch hat, zu erhalten, muss man diese erst einmal kennen - und richtig beantragen. Wenn Eltern aus welchen Gründen auch immer dazu nicht in der Lage sind oder schlicht nichts davon wissen, fehlt ihren Kindern womöglich diese Unterstützung. Armut droht sich somit zu vererben.

In sehr vielen Fällen geht materielle Armut auch mit gesundheitlichen Problemen einher. Bei der Sozialberatung erlebe er oft, dass Menschen nach einem persönlichen Unglücksfall abstürzen, sagt Hilzensauer. Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwierige Trennung. Plötzlich bezieht man Hartz IV, die sozialen Kontakte schwinden. Eine neue Stelle ist nicht in Sicht. Der Frust wächst, die Ängste auch. Armut drückt auf die Psyche. "Irgendwann schlägt Frustration um in Antriebslosigkeit und Mutlosigkeit", sagt Hilzensauer. So wächst auch der Raum für Ressentiments, warnt der Caritas-Geschäftsführer. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, ist schneller offen für radikale Gedanken, das hat sich in der Pandemie in besonderer Deutlichkeit gezeigt.

"Corona hat die soziale Ungerechtigkeit noch einmal extrem verstärkt", sagt Hilzensauer. Das beobachtet auch Michael Germayer, Vorstand der Arbeiterwohlfahrt (Awo) München-Land. Zwar gab es viel Solidarität, doch forciert durch die beschleunigte Digitalisierung und zusätzlich Kontaktbeschränkungen in der Pandemie sind viele Menschen, die sowieso wenige soziale Kontakte haben, in die Vereinsamung gerutscht. Viele Senioren etwa seien völlig verunsichert gewesen ob der Ansteckungsgefahr. Anknüpfungspunkte für Menschen mit geringem Einkommen wie etwa die "Klawotten", Kaufhäuser der Awo, die günstig Second-hand-Mode anbieten, waren über Wochen geschlossen, auch Hilfsangebote wie die Schulbegleitung fielen weg.

Caritas-Chef Matthias Hilzensauer. (Foto: Florian Peljak)

Bei den Schuldnerberatungen haben sich die Fallzahlen 2021 deutlich erhöht; bei der Caritas im Vergleich zu 2020 um 26 Prozent; allein im ersten Halbjahr 2021 wurden 269 Menschen neu als Klienten aufgenommen. Auch bei der in diesem Januar neu eröffneten Schuldner- und Insolvenzberatung der Awo haben schon mehr als 200 Landkreisbürgerinnen und -bürger Hilfe gesucht. Viele Existenzen seien finanziell prekär aufgestellt, sagt Leiterin Stefanie Sonntag. Und das gilt nicht mehr nur für Empfänger von Grundsicherung oder Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Es drohten auch Menschen in Verschuldung zu geraten, die es vorher niemals für möglich gehalten hätten. In der Pandemie beobachteten die Verbände, dass die Privatverschuldung stark zugenommen hat, unter anderem weil Nebenjobs etwa in der Gastronomie weggefallen sind. Schnell kann da der Kredit für das Auto nicht mehr abgezahlt werden.

In der Familienberatung spielten sich zurzeit Dramen ab, berichtet Caritas-Geschäftsführer Hilzensauer. Der Druck, der durch Homeschooling und Heimarbeit, Ängste um Gesundheit und Arbeitsplatz in so vielen Familien über die vergangenen Monate stetig angewachsen ist, entlädt sich. Dabei zeigt sich, dass es an stationären und therapeutischen Angeboten in ausreichender Zahl fehlt. "Es gibt auch für akute Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen so gut wie keine schnellen Unterbringungsmöglichkeiten", sagt Hilzensauer. Die Beratungsstellen der Sozialverbände versuchen, möglichst viel in ihren Stunden aufzufangen.

Auch in den Schulen, sagt Marianne Schütte vom Kreisjugendring München Land, die an einer Grundschule in Ismaning in der Jugendsozialarbeit arbeitet, habe Corona deutlich gezeigt, wo Probleme liegen. Ohne Unterricht in Präsenz seien die Kontakte der Schulsozialarbeiterinnen zu einigen Kindern abgebrochen. Dabei wäre die Schule der Ort, um durch Bildungsgerechtigkeit den Grundstein zu legen, damit alle Kinder mit denselben guten Chancen in ihr weiteres Leben gehen.

Was also soll, was muss sich ändern, damit soziale Gerechtigkeit nicht nur ein Wort bleibt? "Soziale Gerechtigkeit lebt von Kontakten, das ist das A und O", sagt Awo-Vorstand Germayer. "Wir müssen soziale Teilhabe fördern." Dazu zählt er unter anderem eine einfachere Sprache bei Anträgen für Hilfen, aber auch die Kommunen zu ermutigen, Orte für Begegnungen wie Bürgercafés oder Mehrgenerationenhäuser zu schaffen. Außerdem sieht er einen klaren Zusammenhang zwischen Armut, Wohnraum und sozialer Ausgrenzung; der Staat müsse deshalb unbedingt sozialen Wohnraum noch stärker fördern.

Seine Vorstandskollegin Gabriele Rössler legt den Fokus auf die Jugendhilfe und warnt vor möglichen Einsparungen bei zusätzlichen Leistungen. "Was wir jetzt bei Kindern und Jugendlichen einsparen, verursacht in zehn, zwanzig Jahren dann Kosten. Wir sollten lieber Kinder und Jugendliche fördern und dafür ein Schlagloch mehr in der Straße lassen", sagt sie. "Jede verpasste Bildungschance schafft soziale Ungerechtigkeit." Die Jugendsozialarbeit an allen Schulen müsse gestärkt werden, fordert Rössler. Jugendsozialarbeiterin Schütte sieht im Ganztagsunterricht eine Chance, allen Kindern unabhängig vom Elternhaus Förderung zukommen zu lassen - allerdings nur, wenn dieser auch hochwertig ausgestaltet ist. Daran hapere es jedoch bislang. "Wenn wir unseren Kindern eine echte Chancengleichheit eröffnen wollen, müssen wir Geld dafür in die Hand nehmen", fordert Schütte.

Caritas-Geschäftsführer Hilzensauer geht noch einen Schritt weiter. Er würde generell ein bedingungsloses Grundeinkommen, auch für Rentnerinnen und Rentner, einführen. Menschen, die Beratung suchten, sollten diese noch einfacher und ohne finanzielle Beteiligung erhalten. Weiter fordert er höhere Kindergeldsätze, die abhängig vom Einkommen der Eltern gestaffelt sind. Das Gute-Kita-Gesetz, demzufolge etwa Integrationsstunden in Kitas gefördert werden, hält er für einen Anfang; das Schulsystem aber müsse noch durchlässiger werden. Mit Blick auf die Pandemie appelliert er: "Wir dürfen die Kinder und Jugendlichen nicht mehr wegsperren." Jugendliche bräuchten öffentliche Räume ohne Konsumzwang, um sich zu treffen. Eines, so Hilzensauer, habe er gelernt: "Niederschwelligkeit und Angebote vor Ort sind spielentscheidend."

© SZ vom 04.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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