Allerheiligen:In der Anstalt bis zum Tod

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Das Klinikgelände in Haar war früher wie ein Dorf - folglich hat es auch einen eigenen Friedhof. Noch heute finden dort vereinzelt Beerdigungen statt.

Von Christina Hertel, Haar

Zwischen Plastiktulpen, die einmal rot waren und inzwischen braun sind, liegt ein Engel mit goldenen Flügeln und goldener Harfe auf der Erde. Dort, wo einmal ein Grabstein, eine Platte und Blumenschmuck standen und wo heute bloß noch Unkraut aus dem Boden wächst. Den Engel muss jemand erst vor kurzem abgelegt haben, obwohl das Grab schon vor längerem aufgelöst wurde, meint Henner Lüttecke. Wer das war und welche Geschichte sich dahinter verbirgt? Der Pressesprecher des Isar-Amperklinikums in Haar weiß es nicht. Er steht unter hohen Bäumen auf gefallenem Laub an einem Ort der Klinik, der viele Geheimnisse und viel Geschichte in sich trägt: dem mehr als hundert Jahre alten Friedhof am östlichen Rand des ehemaligen Bezirkskrankenhauses.

Um die hundert Gräber gibt es noch, etwa viermal so viel seien es einst gewesen, sagt Lüttecke. Da stehen Holzkreuze, die alle gleich aussehen, und Steinplatten, bei denen der Regen und die Zeit die Schrift weggewaschen hat. Das älteste Grab ist mehr als hundert Jahre alt, das neueste stammt aus diesem Sommer. Noch immer können sich Mitarbeiter und Menschen, die mit der Klinik verbunden sind, hier beerdigen lassen. Doch das komme nur noch selten vor, sagt Lüttecke. Anders als früher, als die Mitarbeiter auf dem Gelände lebten und die Patienten Jahrzehnte ihres Lebens hier verbrachten

Von der Metzgerei bis zur Wäscherei war alles vorhanden

Die Geschichte des Friedhofs ist auch eine Geschichte des Klinikums und der Psychiatrie: Er wurde 1905 angelegt, als das Krankenhaus eröffnet wurde. Damals durfte man das Anstaltsgelände weder ohne Erlaubnis verlassen noch betreten. Dafür war alles - von der Metzgerei bis zur Wäscherei - wie in einem kleinen Dorf vorhanden. Solche Anstalten für psychisch Erkrankte wurden seit dem 19. Jahrhundert geschaffen, weil es damals oftmals keine wirksamen Medikamente und keine ambulante Versorgung gab. Netzwerke aus Ärzten, Psychologen, Therapiegruppen existieren bis in die Siebzigerjahre kaum.

Heute verbringe ein Patient im Schnitt 24 Tage in der Klinik, sagt Lüttecke. Früher seien sie Jahrzehnte geblieben, oftmals eben auch bis zum Tod. Auch die Mitarbeiter wohnten auf dem Klinikgelände, in den Dachgeschossen der Häuser. Einmal die Woche, am Samstagabend, durften sie ausgehen. Viele von ihnen, auch Ehefrauen und Kinder, ließen sich später auf dem Areal beerdigen. So findet man auf dem Friedhof Grabsteine, in die "Maschinistenwitwe" oder "Pflegerwitwe" eingraviert ist, manche Frauen wurden erst Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Ehemänner beerdigt.

Man läuft vorbei an Gräbern junger Soldaten, Todesjahr 1945, Söhne von Mitarbeitern vielleicht. Und man trifft auf Grabsteine ehemaliger Direktoren: wie den Gründer Friedrich Vocke, der 1927 starb, oder von Christof Schulz, der - nachdem er bereits fast 20 Jahre in Rente war - den Klinikfriedhof als letzte Ruhestätte wählte, so wie einige andere Mitarbeiter. Das drücke die große Verbundenheit mit der Klinik aus, sagt der ärztliche Direktor des Hauses, Professor Peter Brieger.

Seit 1990 erinnert ein Mahnmal an die Opfer des Nationalsozialismus

Die letzte Patientin ließ sich 2013 auf dem Friedhof beerdigen. Sie lebte viele Jahrzehnte in einer Wohngruppe, die inzwischen allerdings in eine andere Gemeinde umgezogen ist. Aber auch wenn sich selten Patienten auf dem Friedhof bestatten lassen - dass Menschen in der Klinik sterben, geschieht häufig: Um die 200 Todesfälle zählt das Klinikum laut Lüttecke pro Jahr. Der Grund: Immer mehr ältere Menschen brauchen psychische Behandlung, weil sie suchtkrank oder depressiv sind. Doch beerdigen lassen sie sich außerhalb der Klinik, wo sie zu Hause sind.

Nur die Erinnerung an die dunkelsten Zeiten der Klinik-Geschichte hält der Friedhof nicht wach: Während des Nationalsozialismus wurden mehr als zweitausend Patienten aus Haar ermordet, weil sie krank oder behindert waren und damit nach der NS-Ideologie als nicht lebenswert galten. Einige von ihnen seien auf dem Friedhof beerdigt worden, sagt Lüttecke. Gräber gibt es von diesen "Euthanasie"-Opfern allerdings nicht mehr. Sie seien nicht gepflegt worden, von vielen sei kein Name bekannt gewesen. Seit 1990 erinnert jedoch ein Mahnmal neben der evangelischen Kapelle an alle, die in der Einrichtung während des Nationalsozialismus gewaltsam ums Leben kamen.

Aktuell finden noch zwei bis drei Beerdigungen jedes Jahr auf dem Friedhof statt, sagt Josef Germeier. Er arbeitet seit 13 Jahren als Seelsorger auf dem weitläufigen Klinikgelände. "Es sind alles Menschen, die eine besondere Beziehung zu der Klinik hatten." Zu Allerheiligen am Freitag, 1. November, gibt es wie jedes Jahr eine Gräbersegnung, an der in den vergangenen Jahren immer um die 30 Menschen teilnahmen. Für die meisten Patienten jedoch sei der Friedhof inzwischen einfach ein wunderschöner Park. Pressesprecher Lüttecke weiß, dass im Sommer viele mit Picknickdecken hierher kommen, um sich zu entspannen oder um Ruhe zu finden.

Das Isar-Amperklinikum gedenkt an Allerheiligen am Freitag, 1. November, der Toten. Von 13 Uhr an findet ein Gottesdienst statt, anschließend ein Friedhofsumgang. Beginn ist um 13.30 Uhr.

© SZ vom 31.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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