Pflege in der Krise:Selbst ein Fall für die Intensivstation

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Was ist gute Pflege? Diese Fragen stellten in Aschheim die SPD-Landtagskandidaten Florian Schardt (rechts) und Christine Himmelberg (links) einem Expertenpodium. (Foto: Claus Schunk)

Bei einer Podiumsdiskussion in Aschheim gehen Experten der Frage nach, wie Mängel und Missstände im Alltag von Heimen behoben werden können - und welche Auswirkungen das Bild von den Zuständen in der Öffentlichkeit auf die Branche hat.

Von Anna-Maria Salmen, Aschheim

Wann immer es Missstände gibt, ist eine der ersten Fragen, die sich den Menschen stellt, die nach den Schuldigen. Oftmals macht man es sich dabei allzu leicht, Sündenböcke sind schnell gefunden. Das gilt offenbar auch für den Zustand der Pflege, der - da ist man sich einig - in Deutschland durchaus verbesserungswürdig ist. "Die Presse ist schuld", ruft eine Zuhörerin einer von den SPD-Ortsvereinen Aschheim, Kirchheim und Feldkirchen organisierten Diskussionsveranstaltung lautstark in den Saal. Auch andere monieren, dass Artikel über die Pflege in den Medien immer einen negativen Ton hätten - Eingang in die Berichterstattung fänden nur schlechte Beispiele von Einrichtungen, in denen viel schieflaufe.

Auf dem Podium stimmt man ein: "Journalisten interessieren sich nur für Skandale", konstatiert Michael Wittmann, Geschäftsführer der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. Gute Nachrichten über die Pflege? Fänden keine Beachtung.

"Da gibt es nichts zu beschönigen": Hans Kopp, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt München-Land. (Foto: Claus Schunk)

Paradox wirken diese Behauptungen angesichts der geradezu furchterregenden Schilderungen, mit denen die vier Fachleute auf dem Podium selbst den Abend eröffnen. "Es steht grottenschlecht um die Pflege", sagt Wittmann. Hans Kopp, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (Awo) München, berichtet ebenfalls: "Da gibt es nichts zu beschönigen", die Situation sei dramatisch. "Die Pflege ist seit 30 Jahren am Limit und es wird immer schlimmer", fasst Claus Fussek zusammen, der seit Jahrzehnten auf Missstände in der Pflege aufmerksam macht.

"Wenn ich Ihnen zuhöre, könnte ich meinen Beruf eigentlich gleich an den Nagel hängen."

Eines der Hauptprobleme ist dabei nach Ansicht der Experten der Fachkräftemangel. Das Personal fehle an allen Ecken und Enden, berichtet Kopp. Der Grund dafür liegt für die Diskussionsteilnehmer auf der Hand: "Die Arbeitsbedingungen sind miserabel", so Fussek. Er fordert das Publikum auf, für die Dauer der Veranstaltung auf den Toilettengang zu verzichten - so könne man vielleicht nachempfinden, wie sich ein Pfleger fühle, der sich natürliche Bedürfnisse aufgrund von Unterbesetzung oft verkneifen müsse. "Die Pflegekräfte halten es nicht mehr aus", sagt Wittmann. Bestätigen kann das Gabrielle Schweller, die als Altenpflegerin und Pflegepädagogin bereits seit rund drei Jahrzehnten in der Branche beschäftigt ist. Erst kürzlich, so erzählt sie, hätten ihr innerhalb von drei Tagen vier Kräfte angekündigt, ihren Beruf zum kommenden Monat aufzugeben.

Höchstens zehn Minuten Zeit pro Patient: Altenpflegerin Gabriele Schweller. (Foto: Claus Schunk)

Schweller selbst kennt bessere Zeiten, sie schwärmt vom Luxus der späten 90er-Jahre, in denen ihren Worten zufolge auch mal sieben Kräfte für 35 Gepflegte zur Verfügung standen. Damals sei es normal gewesen, sich eine Dreiviertelstunde für einen Pflegebedürftigen Zeit nehmen zu können. "Heute muss der Mensch froh sein, wenn er zehn Minuten jemanden sieht."

"Wenn ich Ihnen zuhöre, könnte ich meinen Beruf eigentlich gleich an den Nagel hängen", merkt eine Zuhörerin an, die selbst in der Pflege arbeitet. Mit ihrer Einrichtung, dem Kirchheimer Collegium 2000, ist sie eigener Aussage nach zufrieden: "Bei uns wird alles getan, dass jeder das Gefühl hat, sich einbringen zu können." Dennoch stelle sich ihr angesichts der Schilderungen der Fachleute die Frage: Was könne die Pflege tun? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, das wird in der Diskussion deutlich.

Lieber Geld für einen SUV? Michael Wittmann, Geschäftsführer der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. (Foto: Claus Schunk)

Einig sind sich die Fachleute auf dem Podium, dass der Beruf der Pflegekraft attraktiver gestaltet werden muss. Sie verbringe aktuell in ihrer täglichen Arbeit viel Zeit damit, Dinge abzuklären, erzählt die Pflegerin aus Kirchheim. Denn sie alleine dürfe aufgrund rechtlicher Regelungen keine Entscheidungen über einfache heilkundliche Maßnahmen treffen. Daran müsse sich etwas ändern, stimmt Wittmann zu. "Leider blockieren das oft die Ärzte." Um mehr junge Leute für den Pflegeberuf zu begeistern, könne es zudem sinnvoll sein, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, meint Kopp.

Insgesamt müsse das System reformiert werden, merkt Wittmann an. Neue Heime zu bauen, sei wenig zielführend - die meisten Menschen wollten heutzutage ohnehin nicht mehr in eine solche Einrichtung, sondern im Alter lieber zuhause gepflegt werden. "Deswegen müssen wir verstärkt ambulante Strukturen aufbauen." Letztlich müsse sich die Gesellschaft fragen, wo ihre Prioritäten lägen. "Die Pflege sollte dabei weit vorne sein. Wir müssen uns überlegen, ob wir Geld für einen SUV ausgeben oder es doch lieber in gute Pflege investieren."

"Wir müssen aufhören, uns zu bekriegen": Pflegekritiker Claus Fussek. (Foto: Claus Schunk)

Geld ist häufig die entscheidende Frage, wie auch Fussek feststellt. Weit mehr als 50 Prozent der Pflegeeinrichtungen seien in börsenorientierter Hand, Profit sei demnach oft ein zentraler Gedanke. Würdevolle Pflege gebe es durchaus: Gute Einrichtungen würden ihre Bewohner mobilisieren und erreichten, dass diese wieder mehr selbstständig erledigen könnten. Doch schlechte Pflege, die viele Maßnahmen nötig mache, sei manchmal eben lukrativer.

Und dann seien da auch noch die Medien, die scheinbar die guten Beispiele ignorieren und nur negativ über die Pflege berichten würden. Schweller und Fussek räumen dann aber doch ein, dass es oft die Pflegekräfte selbst sind, die ihren eigenen Beruf schlechtreden. Es fehle eine Solidarität innerhalb der Branche, man sei sich untereinander uneinig, sagt Fussek - etwa zwischen der stationären und der ambulanten Pflege. "Wir müssen aufhören, uns untereinander zu bekriegen", bestätigt Schweller. Fussek kann schließlich doch noch einen optimistischen Ausblick bieten: "Wenn diese Solidarisierung gelänge, wäre die Pflege die mächtigste Berufsgruppe der Welt."

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