Lange hatte Karl Nikolaus Köhler Bedenken. Sollte er das wirklich tun? So tief in der Vergangenheit seines Ortes graben und das auch noch öffentlich machen? Inzwischen ist sich der ehemalige Hotelier aus Pullach sicher: "Hätte ich einen Rückzieher gemacht, wäre es ein Fehler gewesen". Die Pullacher, die ihn auf der Straße treffen, sagen ihm, dass er bloß weitermachen solle, weiter unangenehme Fragen stellen zu Pullachs Vergangenheit, in der erst die Nazis kamen und dann der deutsche Auslandsgeheimdienst.
Er freut sich über den Zuspruch, hatte er doch Widerstände, ja Beschimpfungen befürchtet. Doch er sagt auch: "Ich möchte nicht den Robin Hood spielen. Ich bin halt der, der's gerade macht, jeder andere in meiner Situation würde es wohl auch tun."
BND-Gelände in Pullach:Nur für den Dienstgebrauch
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Und so zieht Karl Nikolaus Köhler vor das Münchner Landgericht, um klären zu lassen, was an der Pullacher Heilmannstraße während der Nazizeit und danach passiert ist. Er hat vor wenigen Wochen Zivilklage eingereicht: Köhler gegen die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima). Es geht um Land, auf dem sich die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND) befindet und als dessen rechtmäßigen Erben er sich sieht. Etwa sieben Fußballfelder groß ist das Gelände, das seine Großtante Margarethe Pauckner Mitte der 1930er Jahre an Martin Bormann verkauft hat, einen Vertrauten Adolf Hitlers.
Für einen kleinen Teil des Geländes, etwa 0,2 Hektar, haben Köhler und seine Anwälte beantragt, dass nicht mehr die Bima, sondern Pauckner-Erbe Köhler im Grundbuch stehen soll. Tatsächlich sei das Eigentum nie auf Freistaat, Bund und zuletzt Bima übergegangen, Bau und Betrieb der BND-Zentrale seien eine "rechtswidrige Nutzung fremden Eigentums", argumentieren sie. Vorläufiger Streitwert für das Teilgrundstück, an dem sich auch die Gerichtskosten bemessen: etwa drei Millionen Euro.
Karl Nikolas Köhler geht es nicht um Geld
Sollte Köhler sich durchsetzen, ließe sich die Klage auf die gesamte Fläche von mehr als sieben Hektar aus ehemals Paucknerschem Besitz erweitern. Doch ihm, so sagt Köhler, gehe es nicht ums Geld. Ihm gehe es darum, die Geschichte aufzuarbeiten und mit den Behörden so viele Jahrzehnte später eine Lösung zu finden, die dem, was den früheren Eigentümern auch nach dem Krieg an Zurückweisungen widerfahren ist, gerecht werden solle. "Mir geht es nicht um Millionen, schon gar nicht um Milliarden, wie es immer wieder herumgeistert", sagt er. Köhler ist durchaus wohlhabend, als Erbe der früher einflussreichen Bauernfamilie Seitner, der viel Grund in Pullach gehörte.
Margarethe Pauckner, so zeigen es zahlreiche Schriftstücke, hat nach dem Krieg gegenüber bundesdeutschen und bayerischen Behörden immer wieder klargemacht, dass sie ihren Grund unter Wert und unter Zwang verkauft habe, um einer Enteignung und Repressionen zu entgehen. Doch immer wieder wurde ihr Gesuch, ihre Grundstücke wiederzubekommen, abschlägig beschieden. Teilweise, so bemängeln es die Anwälte ihres Erben und legen es Dokumente nahe, hätten die Behörden Pauckner sogar in die Irre geleitet. Irgendwann gab Pauckner auf. Ihre Wiesen, auf denen Bormann Ende der Dreißigerjahre die NS-Mustersiedlung hatte bauen lassen, gehörten längst zu einem anderen, für die neue Zeit überaus bedeutsamen Areal: Sie wurden Teil der BND-Zentrale und verschwanden hinter Stacheldraht und hohen, grauen Mauern.
Seit bekannt wurde, dass der BND große Teile der bisher geheimen Welt in Pullach verlassen wird, stellt nicht nur Köhler als ein Erbe der ehemaligen Eigentümer unbequeme Fragen. Historiker arbeiten die Vergangenheit auf. Auch Immobilienentwickler erkundigen sich im Rathaus, was nach dem Umzug nach Berlin aus dem Gelände werden soll, das der BND verlässt. Darüber hat die Gemeinde zwar immer wieder beratschlagt, aber noch nicht entschieden. Bauen darf dort bisher niemand.
In der Zukunft könnte das Gelände jedoch enorm an Wert gewinnen. Und der Staat könnte diesen Gewinn abschöpfen, nicht Köhler und andere Erben ehemaliger Eigentümer, so schreiben es Köhlers Anwälte in der Klage, die 34 Seiten umfasst und die umfangreiche historische Bezüge herstellt. Sie bezieht sich auch auf die Zwangsverkäufe am Obersalzberg bei Berchtesgaden, bei denen wie in Pullach Bormann und dessen rechte Hand Gotthard Färber handelten. Die Bundesrepublik sei "Profiteurin des unter Einsatz nationalsozialistischen Gewaltpotenzials zum Nachteil der Frau Pauckner begangenen Unrechts", heißt es in der Klage. Dies und anderes sind harte Vorwürfe, doch vor Gericht dürfte es Köhler dennoch schwer haben.
Denn die Bima hat bisher alle Ansprüche, die Köhler gegen sie erhoben hat, abgeschmettert. Es fehle jeder Beweis, dass Pauckner Unrecht widerfahren sei und dass Bormann Margarethe Pauckner bedroht habe - trotz eindeutig klingender Drohschreiben, die die Bima jedoch als Nachbarschaftsstreit deutet. Und selbst wenn Pauckner Unrecht widerfahren sei, habe die Bundesrepublik dies nicht gewusst und das Gelände "gutgläubig" vom Freistaat Bayern erworben. In jedem Fall habe die Bundesrepublik das Eigentum inzwischen "ersessen", weil sie schon so lange im Grundbuch steht.
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In der Klage werfen Köhlers Anwälte der Bima vor, deren Argumentation sei "eine geschichtsvergessene, bagatellisierende" Betrachtung. Die Bima hatte zuvor angeführt, dass "die verbrecherische Natur des NS-Regimes nicht auf den Erwerb von Grundstücken zur Wohnungsunterbringung von NS-Funktionären und deren Familien durchschlage". Schließlich sei auf Pauckners Grund nie der Bau eines Konzentrationslagers vorgesehen gewesen. Zu Köhlers Klage hat die Bima nicht Stellung genommen, sie wollte sich auch nicht gegenüber der SZ äußern.
Betroffen war von den Enteignungen nicht nur Pauckner, sondern es waren vier Grundeigentümer. Lange hieß es, die Namen der Vorbesitzer seien genauso verschollen wie die Unterlagen über Kaufverträge und Grundbücher. Doch schon in den Siebzigerjahren finden sich Hinweise auf die Familien in Pullacher Gemeindeakten.
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Inzwischen beförderten Archivrecherchen Dokumente über Dokumente zutage. Von zwei der Familien sind bisher weiter keine Erben bekannt. Ebenfalls auf Rückgabe pocht ein Familienzweig der Industriellenfamilie Wöllner, der die größten Anteile am BND-Gelände gehörten und die bis heute schwere Vorwürfe gegen Nachkriegsbehörden und Geheimdienste erheben. Klage haben sie bisher jedoch nicht eingereicht. Zwischen den Familien gab es Kontakte, auch zu Köhlers Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl. Doch die Deutung der Ereignisse und die Stoßrichtung der Forderungen sind Köhler zu unterschiedlich, eine wirkliche Allianz gibt es nicht. "Wöllners machen ihr Ding, wir machen unseres", so Köhler.