Rettung Kirchenasyl:Wer zu früh flüchtet, den bestraft das Gesetz

Lesezeit: 4 min

Dmytro und Walentin (Namen geändert). (Foto: Florian Peljak)

Dmytro und Walentin fliehen aus der Ukraine. Aber nicht vor dem Krieg, sondern vor Gewalt und Schwulenhass. Sie bitten in Deutschland um Asyl, haben aber ein Problem: Sie sind zu früh geflohen - einen einzigen Tag.

Von Andrea Schlaier

Stephan Reichel verabredet sich mit dem Paar im Café Kreuzkamm, weil er am Telefon merkt: Das ist ernst. Er nimmt seine Checkliste mit, wie immer in solchen Fällen. Bei einem Stück Kuchen unterhalten sie sich über: Fluchtgrund, Integration, die Zukunft.

Der Vorsitzende des ökumenischen Asylhelfervereins "Matteo - Kirche und Asyl" erinnert sich noch gut daran, "in was für einer Panik die waren". Zwei inzwischen 27 Jahre alte Männer, der eine studierter Choreograph und Tänzer, der andere IT-Ingenieur, waren im Oktober 2021 geflohen aus ihrer Heimatstadt Sumy in der nordöstlichen Ukraine, nur wenige Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Geflohen vor Walentins gewalttätigen, homophoben Vater, der sie geschlagen und ihnen gedroht hatte, sie umzubringen - weil ihre Liebe eine Schande sei.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Dmytro und Walentin (Namen geändert) flüchteten zunächst nach Prag. Dort gerieten sie in die Fänge eines Kriminellen, der sie zwingen wollte, in Schwulen-Clubs Drogen zu verkaufen. Die beiden hatten Angst - auch davor, wieder abgeschoben zu werden. "Diese Gefahr ist in Tschechien groß", sagt Reichel. "Homophobie ist da teilweise noch enorm verbreitet." Also flohen Dmytro und Walentin weiter - nach Deutschland, wo sie um Asyl bitten wollten. Dmytro und Walentin wussten, dass sie laut Dublin-Verordnung in dem EU-Land Asyl beantragen müssen, in das sie zuerst eingereist sind. Es gibt aber eine Ausnahme, wenn es dem Aufenthaltsland nicht gelingt, die Geflüchteten innerhalb von sechs Monaten in jenes Land zu überführen, das sie zuerst betreten haben.

"Die Polizei war schon bei uns im Ankerzentrum in Ingolstadt", erzählt Dmytro in geschliffenem Englisch. Inzwischen arbeite er als Web-Designer, das sei eine "stabilere Profession" als die Choreografie. "Wir haben immer noch Angst, unsere Beziehung in der Öffentlichkeit zu zeigen", sagt Dmytro, dennoch habe sie die Polizei schnell als Paar ausgemacht. "Trotzdem wollten sie erstmal nur mich holen und nach Tschechien abschieben. Aber wenn ich fliege, dann nicht ohne Walentin."

Der Angriffskrieg Russlands hatte inzwischen begonnen, Tausende Ukrainer flüchteten nach Deutschland, wo sie bleiben dürfen - ohne einen Asylantrag stellen zu müssen. "Der Polizist im Ankerzentrum hat gesagt: Ihr Fall ist tricky. Ich gebe Ihnen zwei Wochen, das Problem zu lösen."

Entsprechend der "Massenzustrom Richtlinie" der EU müssen Ukrainer, die infolge der Invasion fliehen, kein langwieriges Asylverfahren durchlaufen, sondern haben Anspruch auf vorübergehenden Schutz. Die bayerischen Ausländerbehörden erteilen diesen für zunächst zwei Jahre. Die Regelung gilt für Menschen, die spätestens 90 Tage vor Kriegsausbruch geflohen sind. Bei Dmytro und Walentin waren es 91 Tage.

Panisch suchten die beiden Männer nach der Begegnung mit der Polizei im Ankerzentrum Hilfe - und stießen dabei auf Reichel. Kirchenasyl schien der einzige Ausweg zu sein. Nach eingehenden Gesprächen entscheidet Reichel, welcher Fall so gravierend ist, dass er dafür infrage kommt.

Im Kirchenasyl werden Flüchtlinge ohne legalen Aufenthaltsstatus zeitlich befristet aufgenommen

"99 Prozent unserer Fälle sind Dublin-Fälle", sagt Bettina Nickel, stellvertretende Leiterin des Katholischen Büros Bayern, das auf katholischer Seite Kirchenasyl-Fälle prüft und Pfarrgemeinden und Klöster, die aufnahmebereit sind, berät und Empfehlungen abgibt. Schätzungsweise würden jährlich in ganz Bayern zwischen 550 und 600 Kirchenasyle gewährt. Eine Statistik führe man nicht. "Einige", sagt Nickel unbestimmt, seien in München im Kirchenasyl gewesen, darunter viele in Klöstern, etwa bei den Barmherzigen Schwestern, der Benediktinerabtei Venio oder den Franziskanern. Ende vergangenen Jahres sei auch ein lesbisches Paar aufgenommen worden. "Solche Fälle gibt es immer wieder. Viele wollen ihre Ruhe und keine mediale Aufmerksamkeit."

Im Kirchenasyl werden Flüchtlinge ohne legalen Aufenthaltsstatus zeitlich befristet aufgenommen - unter anderem, wenn ihnen bei der Rückführung in das EU-Eintrittsland nicht hinnehmbare soziale, inhumane Härten drohen. Das Kirchenasyl bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone, auch wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 2015 erklärt hat, diese christlich-humanitäre Tradition anzuerkennen und das bayerische Innenministerium zusagt, kein Kirchenasyl gewaltsam räumen zu lassen.

Als der Münchner Pfarrvikar Wolfgang Rothe von der katholischen Gemeinde St. Michael auf Reichels Unterstützungsliste die Geschichte des homosexuellen Paares aus der Ukraine entdeckt, reagiert er sofort. Die Pfarrgemeinden und Klöster entscheiden selbst, ob sie Kirchenasyl gewähren wollen. "Ich war fassungslos, als ich von dem Fall erfahren habe", berichtet Rothe, der sich für queere Menschen in der Kirche stark macht. "Wir hatten ein Ein-Zimmer-Apartment frei, das wir zur Verfügung stellten." Das Katholische Büro habe ihn "großartig unterstützt". Im August zogen Dmytro und Walentin ein, um dort darauf zu warten, dass die Überstellungsfrist nach Tschechien abläuft. "Wir waren so glücklich, endlich einen privaten Platz zu haben", erinnert sich Dmytro.

Pfarrvikar Rothe schaute jeden Tag nach ihnen, kaufte für sie ein. Bis vor Kurzem - denn nun ist die sechsmonatige Dublin-Frist abgelaufen und die Gefahr einer Abschiebung nach Tschechien gebannt. Jetzt läuft das Asylverfahren in Deutschland.

Peter Henle, der Anwalt der beiden Männer, ist zuversichtlich: "Seit 1. Oktober gibt es eine Neuregelung des Innenministeriums und damit einen besseren Schutz für queere Geflüchtete", erklärt er. Bei der Prüfung der Asylverfahren muss als Maxime gelten, dass diese Gruppe ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität im Herkunftsland ohne Gefahr offen leben kann. Flüchtlingshelfer Reichel sagt deutlich: "Auch wenn ihr Heimatland auf einem demokratischen Weg ist, ist es ein Märchen zu glauben, in der Ukraine gebe es keine Homophobie. Im Gegenteil: Gerade in den von Russland beeinflussten Gebieten ist sie verbreitet."

Dmytro und Walentin sind von ihrem Perlacher Kirchenasyl direkt ins Ankerzentrum an die Maria-Probst-Straße gefahren, der ersten Anlaufstelle für Asylsuchende in München. "Die wollten uns erst wieder wegschicken, weil sie gesagt haben, als Ukrainer müsst ihr in ein anderes Camp." Der 27-Jährige lacht ein bitteres Lachen am Telefon. Mit seinem Partner ist er da schon auf dem Weg zur nächsten Station - sie werden nach Ingolstadt verlegt, Verbleib ungewiss. "Dieses Liebespaar hat viele Baustellen", sagt Reichel. "Sie erleben den Bruch mit den Familien, ihrem Heimatland und müssen erklären, warum gehst du nicht in den Krieg?"

Der Flüchtlingshelfer denkt an seine Checkliste im Café: Fluchtgrund, Integration, Zukunft. "Sie haben gute Berufe, realistische Vorstellungen, sind fleißig", sagt Reichel. "In Deutschland könnten sie auch heiraten. In Tschechien und der Ukraine nicht."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Geflüchtete in Privatwohnungen
:Vier Wochen sollten sie bleiben - eigentlich

Als der Ukraine-Krieg losbricht, stellt ein Schwabinger Geflüchteten seine Wohnung zur Verfügung. Das Zusammenleben mit Valya und Katya klappt gut, doch fünf Monate später wollen die Ukrainerinnen auf eigenen Füßen stehen. Aber wie gelingt das?

Von Melanie Strobl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: