Kritik:Sitztanz zu ungeahnten Rhythmen

Lesezeit: 2 min

Aki Takase tritt mit ihrer Band "Japanic" im Olympiastadion auf. Den zweiten Teil des lauschigen Jazz-im-Sommer-Abends bestreitet das Tingvall Trio.

Von Rosanna Großmann, München

"Jazz im Sommer" - das klingt nach Grillenzirpen, nach Rotwein und sich in die warme Luft ausbreitenden Klangwelten. Die Konzertreihe von Jazz Stiftung München, Kulturreferat, Muc Jazz und Unterfahrt, zuvor auf der Theresienwiese zu Gast, ist zum Abschluss im Olympiastadion angekommen - und erfüllt dem Publikum tatsächlich alle Sommerträume.

Während noch Zipliner vom Dach des Stadions auf der Seilbahn über den Abgrund gleiten und dabei vereinzelte Schreie loslassen, beginnt auf der Bühne bereits Aki Takase mit ihrer Band Japanic. Gerade hat die Wahlberlinerin den Deutschen Jazzpreis in der Kategorie Piano erhalten. Das Quintett, mit dem die 73-Jährige nun in München aufspielt, ist im Vergleich zu Takases Jazz-Historie noch jung. 2019 brachten die Musiker ihr erstes Album heraus: "Thema Prima".

Daniel Erdmann fesselt Blick und Gehör an Saxofon und Oboe, Johannes Fink zupft den Kontrabass, dazu kommen Dag Magnus Narvesen am Schlagzeug und DJ Illvibe alias Vincent von Schlippenbach an den Turntables. Der Sohn von Takases Mann bespielt die aufgelegten Platten tatsächlich wie ein eigenes Instrument, das je nach Tonspur eine breite Geräuschkulisse erzeugen kann. Ein Helles und die Breze dazu lassen sich die Jazzhörer auf den schmalen Sitzen des Stadions nicht nehmen. Etwa 200 Leute haben sich in der Südkurve eingefunden, um Japanic zu lauschen. "Traffic Jam", das erste Stück auf dem Album und im Konzert, erzählt klanglich eine Geschichte von Hupen, dichtem Auffahren und wütenden Automobilisten - wie eine Erlösung wirkt der melodische Teil, als der Verkehr wieder fließt.

In die Pausentakte schreien die Achterbahnfahrenden hinter den Rängen

Besonders DJ Illvibe versteht es, die Ohren mit abgehackten Scratches zu strapazieren. Doch auch Takase scheint beim aggressiven Spiel die Tasten aus dem Flügel zu reißen und sie in die Luft zu werfen, bis sie zu ungeahnten Rhythmen zurück in die Melodie klappern. Beim nächsten Stück unter dem knallblauen Himmel schreien in die Pausentakte die Achterbahnfahrenden hinter den Rängen, als gehörte es zur Komposition.

Dann folgt das Tingvall Trio als zweiter Act. Deren noch vor der Pandemie eingespieltes Album "Dance" lockt mit formschönen, eingängigen Tänzen. Die Ansage der Veranstalter lautet leider: Im Sitzen tanzen dürft ihr ohne Maske, im Stehen nur mit. Und so zieren Sitztänzer die Reihen. Im pinken Scheinwerferlicht bieten Martin Tingvall am Flügel, Omar Rodriguez Calvo am Bass und Jürgen Spiegel am Schlagzeug treibende Takte. Seit fast 20 Jahren spielen die mit Preisen überhäuften Jazzmusiker bereits in dieser Formation. Ihr Sound wabert mal in die Rockmusik, mal in den Folk; immer wieder in den Pop.

Calvo zupft und streicht sein Instrument in den Soloparts mitreißend, auch die anderen beiden stehen dem Bassisten an kreativer Impulsivität in nichts nach. Ein zweifelnd zitternder Bogen leitet den "Arabic Slow Dance" ein, epische akustische Breiten öffnen sich, nur um kurz darauf wieder weggeträumt zu werden. Wie menschliche Stimmen erzählen die Instrumente - man möchte ihren Geschichten die ganze Nacht zuhören.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: