Ostern in den Kirchen:Kantaten für alle

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Ein schönes "Ä" - also bitte noch einmal: Chorleiterin Yoko Seidel (links) bei der Probe für Bachs "Johannes-Passion". (Foto: Florian Peljak)

Von Kunst bis Theater - die evangelische Kirche wird zunehmend erfinderisch, wenn es darum geht, Publikum in die Gotteshäuser zu locken. In der Pasinger Himmelfahrtskirche setzt man auf Musik. Dort erklingt am Karfreitag Bachs Johannes-Passion, in voller Länge und zum Mitsingen.

Von Franziska Gerlach

Die Aggression der Hohepriester, ja, die spürt man auch in Pasing. "Kreuzige! Kreuzige!" singt der Chor, und auch die Stimmen scheinen sich zu überkreuzen, treiben sich gegenseitig an, immer weiter die Wände des Gemeindehauses der Himmelfahrtskirche hinauf, bis den Zuhörer eine leise Panik erfasst. Das war vermutlich auch die Absicht von Johann Sebastian Bach, als er die "Johannes-Passion" schuf, sein Oratorium nach dem Text des Evangelisten Johannes. Und während Yoko Seidel, die Kantorin der Pasinger Himmelfahrtskirche, die gut 40 Sängerinnen und Sänger die Stelle üben lässt, einmal, zweimal, dreimal, da kramt das Gedächtnis ein Bild aus dem Religionsunterricht hervor: Jesus mit Dornenkrone und abgetragenem Purpurmantel, der das Kreuz durch den Staub schleppt.

Die Passionsgeschichte beschreibt das Leiden und den Tod Christi, in den Minuten vor der Probe aber sitzt eine gut gelaunte Yoko Seidel an einem Tisch im evangelisch-lutherischen Gemeindehaus. Die gebürtige Japanerin leitet den Chor und das Orchester der Himmelfahrtskirche. Nun will sie der Kirche mit Musik Leute zuführen, die sich im Hause Gottes eher selten blicken lassen. Kantaten für alle sozusagen. An diesem Karfreitag, 7. April, gibt es in Pasing die Johannes-Passion als Kantatengottesdienst, die Musik bildet dabei einen Rahmen um Predigt und Liturgie und wird in voller Länge aufgeführt. Das sei ein sehr besonderes Projekt, betont Seidel. Mache in der Form niemand.

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Gerade um Ostern sind Passionen zwar beliebt, oftmals muss man dafür aber eine Eintrittskarte für einen Konzertsaal erwerben. Dabei hatte Bach die Johannes-Passion für den Gottesdienst geschrieben. Das Werk für einen vierstimmigen Chor, Gesangssolisten und Orchester erlebte am 7. April 1724 in der Nikolaikirche in Leipzig seine Uraufführung - das ist an diesem Karfreitag genau 299 Jahre her. Wer dem Konzert mit Gottesdienst in der Himmelfahrtskirche folgen möchte, wird rund zweieinhalb Stunden investieren müssen. Sie habe zunächst Zweifel gehabt, ob das nicht zu lang sei, sagt Seidel. Die Kantorin meint aber auch: "Die Kirche muss eine andere Richtung gehen, wenn sie überleben will."

Und die Gemeinden versuchen ja auch einiges, um der schwindenden Zahl der Gläubigen beizukommen: Es gibt Kunst in der Kirche, Handwerk in der Kirche, Theater in der Kirche. In Pasing setzt man auf musikalische Großproduktionen, wo sonst allenfalls ein Organist das Notenheft aufschlägt. 2017 wurde die Aufführung zweier Kantaten aus Bachs Weihnachtsoratorium als festes Programm etabliert, da sei es immer proppenvoll. 2019 studierte Seidel mit sage und schreibe vier Chören das Oratorium "Elias" von Felix Mendelssohn Bartholdy ein. Mittlerweile hätten sie richtige "Fans".

Volle Herzen, volle Stimmen: Nicht nur der Chor soll kräftig singen. (Foto: Florian Peljak)
Hat vor 32 Jahren in Heidelberg Kirchenmusik studiert: Yoko Seidel. (Foto: Florian Peljak)

Sie lacht, als sie das sagt, und klingt dabei mehr nach Rock am Ring als nach Gesangbuch. Doch Seidel meint damit Menschen, die mit geistlichen Inhalten nicht viel anfangen können, aber für die Konzerte kommen. Dieser besonderen Stimmung wegen, die Musik in der Kirche entfaltet. Im vergangenen Jahr wagte man sich erstmals an die Johannes-Passion als Kantatengottesdienst heran. Und siehe da: Die Leute, junge wie alte, blieben nicht mehr nur ruhig und konzentriert sitzen. Viele hätten auch die Choräle mitgesungen, wie Seidel erzählt, mit der vollen Kraft ihrer Lungen und Herzen. Denn das ist in Pasing nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht.

Eine Frau steckt den Kopf zur Tür des Gemeindesaals herein, gleich beginnt die Probe. Die Kantorin will aber noch ein bisschen erzählen und schickt das überpünktliche Chormitglied auf den Flur zurück. Dieses Projekt erscheint auch deshalb so modern, weil die Kirchenmusikerin es tut. Die Bewegungen, ihr Lachen, die Sprache, alles an ihr wirkt wie ein lebendiger Gegenentwurf zum Klischee einer unnahbaren Einrichtung, der die Antworten ausgegangen sind. Seidel ist die Tochter eines Professors für Religionsphilosophie und zählt als Christin in Japan zu einer Minderheit, beides befähigte sie schon als Mädchen, gegen die Meinung der Massen zu denken. Auch mal Neues zu wagen. "Das hab' ich so drin", sagt sie. Vor allem aber wohnt in der Kantorin die Liebe vieler Asiaten zu den deutschen Komponisten.

Und die brachte sie vor 32 Jahren dazu, in ein Flugzeug zu steigen und in Heidelberg Kirchenmusik zu studieren. Die Wertschätzung für Bach zeigt sich dann auch, als der Chor eine weitere Stelle einübt. "Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz soll er sterben", singen die Tenöre. "Ein schönes ,Ä' in Gesetz", korrigiert Seidel, "nach oben". Also bitte nochmal. Soll schließlich gut werden. Einen kreativen Umgang mit dem biblischen Stoff pflegt man in diesem Jahr im Übrigen auch in der Dreifaltigkeitskirche in Bad Berneck, wo sie den Text auf Fränkisch gesungen haben, das Kultur- und Bildungszentrum Unterhaching zeigte die Johannes-Passion als Ballett.

Probe für die Johannes-Passion von Bach. (Foto: Florian Peljak)

Im Fall von Pasing lässt sich sagen: Die Inhalte der Geschichte sollen nicht hinter das Kulturerlebnis zurücktreten. Die Himmelfahrtskirche wird nicht zur Bühne degradiert. Zumal dahingestellt sei, wie viele Münchner de facto gläubig werden, um Bach live zu hören. Eine Chance bieten sie dennoch, diese Kantaten für alle. Seidel vertraut da ganz auf die Musik. Ihr habe sie ja auch den Weg gewiesen.

"Johannes-Passion" am Karfreitag, 7. April, um 10 Uhr in der Himmelfahrtskirche in München-Pasing, Marschnerstraße 3, Eintritt frei

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