Widerstandskämpferin:Das Vermächtnis der Familie Scholl

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Zufallsfund - in Brasilien aufgedeckte Freundschaft von Sophie Scholls Vater Robert (hinten) mit einem jüdischen Arzt, die vom 1. Weltkrieg bis zum Tod anhielt. (Foto: Luise Weiß)

In einem Haus in Brasilien sind bisher unveröffentlichte Dokumente und ein Foto aufgetaucht. Der Fund beleuchtet im Jahr des 100. Geburtstags von Sophie Scholl Menschlichkeit und Zivilcourage in einer totalitären Zeit - und eine bemerkenswerte Beziehung.

Von Hans Kratzer, München

Als die Eltern von Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943 voller Sorgen am Münchner Hauptbahnhof eintrafen, hatte die Verhandlung des Volksgerichtshofs im Justizpalast bereits begonnen. Vier Tage vorher, am 18. Februar, waren die Geschwister Scholl während einer Flugblattaktion in der Münchner Universität entdeckt und von der Gestapo verhaftet worden. Freilich, wären die Eltern vor Beginn der Verhandlung eingetroffen, wäre ihnen der Zutritt wohl wegen der fehlenden Eingangskarte verwehrt worden. Da sie aber sehr spät eintrafen, konnten sie den mit Nazibonzen gefüllten Saal ungehindert betreten.

Elisabeth Hartnagel, die Schwester von Hans und Sophie Scholl, erzählte später, ihr Bruder Hans habe, als er die Eltern erblickte, Zuckungen bekommen. Ihre Anwesenheit muss ihn über die Maßen berührt haben. Die Eltern bekamen laut Hartnagel noch mit, dass der ruchlose Verteidiger sagte, er habe die Akten gar nicht gelesen. Wenn er gewusst hätte, dass es in diesem Prozess um Hochverrat gehe, hätte er das Mandat erst gar nicht angenommen. Als Robert Scholl dies vernahm, gab er den Richtern zu verstehen, dass er die Verteidigung seiner Kinder übernehmen würde, wenn der Anwalt es nicht täte. Daraufhin wurde er des Saales verwiesen.

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Die Eltern der Geschwister Scholl finden in der historischen Rückschau naturgemäß weniger Aufmerksamkeit als ihre Kinder. Aber der Auftritt im Gericht offenbart recht deutlich, dass auch Robert Scholl ein Mensch war, der sich nicht einschüchtern ließ, erst recht nicht, wenn es um seine Kinder ging. Die Frage, inwieweit diese von ihm und seiner Haltung geprägt waren, ist sehr berechtigt.

Umso interessanter ist ein Zufallsfund, der vor kurzem in einem Haus in Brasilien ans Licht gekommen ist und der Münchner Historikerin Suzane von Seckendorff zugänglich gemacht wurde. Es handelt sich um eine Fotografie, einen Brief und eine gedruckte Grabpredigt. Entdeckt wurde dieses Material von der Künstlerin Luise Weiß, mit der Suzane von Seckendorff befreundet ist. Beim Stöbern in alten Familienunterlagen fand sie Unterlagen ihres Großvaters, der 1924 nach Brasilien ausgewandert war. Die Dokumente lagen in einer Mappe, niemand in der Familie habe etwas damit anfangen können, sagt Luise Weiß. Erst sie habe diese Quellen nun genauer angeschaut. Ihr jüdischer Großvater habe unbedingt noch gegen die Nazis kämpfen wollen, erinnert sie sich.

Die Grabpredigt für Magdalene Scholl. Ihr Mann hatte sie seinem Freund aus den Tagen des Ersten Weltkriegs zugeschickt. (Foto: Luise Weiß)

Das Foto stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und zeigt zwei junge Soldaten, die auf einer Rampe sitzen und freundlich-distanziert in die Kamera blicken. Vermutlich gehörten sie einem Sanitätszug an, der vordere Mann trägt eine Rotkreuzbinde am linken Arm. Bei ihm handelt es sich um den Arzt Dr. Fritz Weiß, den besagten Großvater von Frau Weiß. Bei dem jungen Soldaten daneben aber handelt es sich um Robert Scholl, den Vater der Geschwister Scholl. Beide lernten sich also im Ersten Weltkrieg kennen, wo Weiß gemäß seinen Aufzeichnungen in Russland, in Italien und in der österreichischen Orientarmee eingesetzt wurde.

Robert Scholl wurde von seiner Sekretärin bei der Gestapo denunziert

Dass die Bekanntschaft von Weiß und Scholl ein Leben lang hielt, beweist jener Brief aus der Mappe. Robert Scholl schrieb am 14. September 1958 an Dr. Weiß, der ihm anlässlich des Todes von Magdalene Scholl kondoliert hatte. Scholl sandte ihm die Grabpredigt zu, damit er daraus ersehen möge, "von welcher Art und wessen Geistes die Verstorbene war. Und von dieser Art waren auch meine Kinder", schrieb er ihm. Er beklagt, dass sich "unser deutsches Volk nur zum kleineren Teil eine Einsicht in die Verderblichkeit und das Verhängnisvolle der Hitlerzeit gezeigt hat." Viele wollten, so Scholl, aus Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zugeben, einen falschen Weg gegangen zu sein und am Unheil der Welt und des eigenen Volkes sich schuldig gemacht zu haben. "Wir dürfen doch mit einiger Sicherheit behaupten, dass ohne die Herrschaft der Nationalsozialisten unsere heutige Welt gesünder und friedfertiger wäre."

In seinem Brief an den Freund beklagt Scholl in den Fünfzigerjahren, dass sich "unser deutsches Volk nur zum kleineren Teil eine Einsicht in die Verderblichkeit und das Verhängnisvolle der Hitlerzeit gezeigt hat." (Foto: Luise Weiß)

Bei der besagten Predigt zum Tode von Magdalene Scholl am 2. April 1958 in Ulm würdigte der Pfarrer die Verstorbene, "deren Leben uns größte Achtung und tiefsten Respekt abnötigt, deren Name zum tröstlich-beschwörenden Symbol für die größte Schmach unseres Volkes wurde." Der Name der Geschwister Scholl habe, so fuhr er fort, "damals in der größten selbstverschuldeten Schmach unseres Volkes vielen Deutschen wieder den Glauben geschenkt, dass es noch ein anderes Deutschland gab als das, welches sich damals im Amoklauf des Größenwahns selbst vernichtete und noch Millionen andere in den Abgrund fortriss."

Sowohl die Predigt als auch Scholls Brief belegen, dass viele Deutsche damals noch gar nicht in sich gegangen waren. Der Name Scholl war für viele Ewiggestrige immer noch kontaminiert. Umso wichtiger ist es der Historikerin, dass diese unveröffentlichten Quellen im Jahr des 100. Geburtstages von Sophie Scholl öffentlich gemacht werden. Beeindruckt hat sie, dass Robert Scholl den Kontakt zu dem jüdischen Arzt aufrecht erhalten hat, zu einem "Bruder im Geist", wie ihn Robert Scholl nannte, trotz Entfernung und dem von oben verordneten Hass. Für Suzane von Seckendorff steht fest: "Das zeigt eine weitere Facette in der Prägung der Geschwister Scholl - das pazifistische Elternhaus."

Den Nazis stand Robert Scholl von Anfang an ablehnend gegenüber. Im August 1942 trat er eine viermonatige Haftstrafe an, nachdem ihn seine Sekretärin bei der Gestapo denunziert hatte, er habe Hitler verunglimpft. Nach seiner Entlassung durfte er seinen Beruf nicht weiter ausüben. Nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943 verschlechterte sich die Situation der Familie zusehends. Im Mai 1943 wurde Robert Scholl wegen Hörens ausländischer Sender zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

Nach dem Krieg bekleidete Scholl vom Juni 1945 bis 1948 das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Ulm. In den 1950er Jahren gründete er zusammen mit den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Johannes Rau die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Sein weiteres Leben widmete er bis zu seinem Tod im Jahre 1973 dem Vermächtnis seiner Kinder. Die Grabstätte der Familie Scholl befindet sich auf dem Friedhof am Perlacher Forst in München.

Weitere Scholl-Briefe konnte Frau Weiß in Brasilien bislang nicht finden. Man muss dabei erwähnen, dass der Name Scholl in Brasilien keine Bedeutung hat, dass dort aber nach dem Krieg viele Nazis Zuflucht fanden. Suzane von Seckendorff wollte deshalb nicht ausschließen, dass die Familie Weiß aus Sorge weitere Briefe versteckt hat. In ihrem jüngsten Gespräch schloss ihre Freundin Luise Weiß dies aber kategorisch aus. Das sei nicht der Fall, sagte sie. "Die Familie Scholl ist hier kaum jemandem bekannt."

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