Porträt:Aufgeben ist nicht ihr Ding

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Naila Kettaneh-Kunigk pendelt zwischen München und ihrer Geburtsstadt Beirut. Vor 50 Jahren gründete sie die Galerie Tanit in München. (Foto: Sami Jo Naim)

Naila Kettaneh-Kunigk gründete vor 50 Jahren die Galerie Tanit für zeitgenössische Kunst in München und unterhält seit 15 Jahren einen Ableger in Beirut. Bei der großen Explosion vor zwei Jahren im Hafen der libanesischen Hauptstadt wurde die Galerie zerstört, sie und ihre Mitarbeiter entgingen nur knapp der Katastrophe. Ein Neuanfang zum Jubiläum.

Von Evelyn Vogel

Als sie wieder zu sich kam, war überall zerborstenes Glas. Die Druckwelle der Explosion hatte sie durch die Luft gewirbelt, hatte sie kurzzeitig ausgeknockt. Ein Mitarbeiter war schwer verletzt, die anderen waren mit ein paar Schrammen und dem Schrecken davon gekommen. Naila Kettaneh-Kunigk, die in München seit 50 Jahren die Galerie Tanit hat, schüttelt sich noch heute, wenn sie an den 4. August 2020 zurückdenkt. Jenen Tag, an dem im Hafen von Beirut eine riesige Menge Ammoniumnitrat explodierte. 218 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, Hunderttausende obdachlos. Die Schäden werden mit 15 Milliarden Dollar angegeben. Nur gut 300 Meter von der Explosionsstelle entfernt befindet sich das Haus, in dem Naila Kettaneh-Kunigk seit 2017 eine zweite Galerie betreibt und in dem ihre Wohnung liegt.

Die Druckwelle der Explosion im Hafen von Beirut ließ alles Glas in der nur etwa 300 Meter entfernten Galerie Tanit zerbersten. (Foto: Roy Dib/Galerie Tanit)
Der brutalistischen Architektur des Beiruter Tanit-Ablegers immerhin konnte die Druckwelle nichts anhaben. (Foto: Charles Khalil/Galerie Tanit)

Wie sollte es weitergehen? In Beirut waren 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche zerstört, Kunstwerke zum Teil unwiederbringlich beschädigt, die Wohnung unbewohnbar. Ihre Galerie in der Münchner Maximilianstraße war wegen der Pandemie monatelang geschlossen. Doch Naila Kettaneh-Kunigk wäre nicht die, die sie ist, wenn sie nicht weitergemacht hätte. Die Räume in Beirut wurden renoviert und mit der Ausstellung "Togetherness" im Juli 2021 wiedereröffnet. Diesen November feierte sie mit "Crossed Perspective" das 15-jährige Bestehen der Beiruter Dependance. Die Galerieräume in der teuren Münchner Maximilianstraße hat sie vor mehr als einem Jahr endgültig aufgegeben und ist in kleine, aber hübsch-lichte Räume in einem Hinterhof in der Reisingerstraße nahe dem Sendlinger Tor umgezogen. Dort feiert die inzwischen 78 Jahre alte Galeristin mit der Ausstellung "Paper Trail" von diesem Mittwoch an das 50. Galeriejubiläum.

50 Jahre Galeristin in München? Naila Kettaneh-Kunigk schüttelt noch heute lächelnd des Kopf, wenn sie darüber nachdenkt, wie alles kam. 1944 wurde sie im Libanon geboren. Der Vater war Geschäftsmann und Sammler persischer Antiquitäten, die Mutter Anwältin, "was sehr ungewöhnlich war für die damalige Zeit", betont die Tochter. Ihre Mutter, Aimée Kettaneh, wurde 1956 erste Präsidentin des "Baalbeck International Festivals" im Libanon. Sie engagierte Größen des europäischen Klassikbetriebs wie Kempff und Karajan für Auftritte. Ende der Sechzigerjahre besuchte sie mit ihrer Mutter Berlin. Bei einer Stippvisite in München lernte die junge Naila Kettaneh den Landschaftsarchitekten Stefan Kunigk kennen - und lieben.

Das Paar zog nach Berlin. Die Galerieszene im damaligen West-Berlin war überschaubar. Doch die Besuche weckten die Liebe zur Kunst bei beiden, eine Liebe, die bei Naila Kettaneh schon entflammt worden war, als sie in Paris Politologie studierte hatte. "Wir führten ein offenes Haus, viele Künstler gingen ein und aus", erzählt Kettaneh-Kunigk. Nach dem Umzug nach München - "der Schwiegervater rief den Sohn nach Hause, und damals stellte man sowas nicht in Frage", erzählt sie - war das alte Umfeld weg. Die Galerieszene hier war noch überschaubarer als die in Berlin. "München erschien mir als eine Stadt der Cocktailpartys. Ich hab' mich schnell gelangweilt", erinnert sie sich. Als ihr Mann vorschlug, selbst eine Galerie zu eröffnen, habe sie erstmal protestiert und gesagt: "Ich bin Wissenschaftlerin und noch dazu auch keine Verkäuferin." Doch ihr Mann habe erwidert: "Du wirst es lernen."

Mehr als 20 Jahre war die Galerie Tanit in der Maximilianstraße 45 in München zu Hause. (Foto: Galerie Tanit)
Ein Neuanfang nach der Pandemie auch in München: In einem Hinterhofgebäude nahe dem Sendlinger Tor ist die Galerie Tanit nun zu finden. (Foto: Szilard Huszank)

Und so gründeten die Kettaneh-Kunigks 1972 die Galerie Tanit, benannt nach der punischen Göttin der Fruchtbarkeit. Die Galerie lag in der Sternstraße, "aber mein Traum war von Anfang an, in die Maximilianstraße zu kommen". Das Startkapital - umgerechnet 40 000 Mark - kam von den Eltern. Los ging es mit dem tschechischen Künstler Jan Kotik. "Wir fingen an, ohne Programm, machten was uns gefiel", erzählt die Galeristin. Neben deutschen Künstlern kamen bald amerikanische Minimalisten und Arte-Povera-Künstler dazu, eine Vorliebe für konzeptuelle, raumbezogene Kunst stellte sich ein. In den Siebzigern gelang es, mit Ausstellungen von Robert Rauschenberg, Michael Heizer und Jasper Johns Aufmerksamkeit zu erregen. Neben der Industriefotografie von Bernd und Hilla Becher zeigte Tanit Hamish Fultons "Roads and Paths". Doch noch immer stand Tanit im Schatten der Münchner Galeristen, die an der Maximilianstraße residierten.

Anfang der Achtzigerjahre trat Walther Mollier in die Galerie ein, bald darauf zog man in ein Rückgebäude der Maximilianstraße 36. Kurze Zwischenspiele in Köln und Brüssel erwiesen sich als nicht sehr aussichtsreich und wurden bald wieder beendet. Im November 1992 kam Stefan Kunigk ums Leben. Ende der Neunzigerjahre war Naila Kettaneh-Kunigk dort angekommen, wo sie von Anfang an hinwollte: in ein Vorderhaus der Maximilianstraße. In der Nummer 45 war die Galerie Tanit dann mehr als 20 Jahre beheimatet. Der Rückzug in den Hinterhof der Reisingerstraße mag einerseits schwierig sein. Doch längst ist die Maximilianstraße nicht mehr die Traumadresse der Münchner Galerien. Selbst wer beim Wetteifern um die sündteuren Quadratmeter mit den internationalen Edelboutiquen vielleicht noch mithalten könnte, hat sich längst von dort verabschiedet.

In diesem Frühjahr zeigte die Galerie Tanit in München Werke des 1991 in Syrien geborenen, in Beirut lebenden Künstler Anas Albraehe in einer Einzelausstellung. (Foto: Sami Jo Naim/Galerie Tanit)

Im Programm von Tanit sind seit den Nullerjahren immer mehr auch sehr junge zeitgenössische Positionen aufgetaucht. Akademieabsolventen aus München ebenso wie junge Künstler aus dem Mittleren und Nahen Osten, die Naila Kettaneh-Kunigk sowohl in ihrer Galerie in Beirut wie in der in München zeigt. Doch auch bekannte Namen wie Simone Fattal und Etel Adnan sind dabei. Inzwischen pendelt sie wieder regelmäßig zwischen München und Beirut. "Es läuft sehr gut, obwohl die Wirtschaft kriselt", erzählt sie. Im Grunde ist der Libanon nicht nur in der Krise, sondern am Boden zerstört. Die schon seit Jahren anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise wurde durch die Pandemie massiv verstärkt. Die Inflation ist verheerend.

Doch Naila Kettaneh-Kunigk bleibt zuversichtlich. Ihr 37 Jahre alter Sohn Maximilian will im kommenden Jahr in die Galerie einsteigen, "die Tradition setzt sich fort", freut sich die Galeristin. Doch erst einmal wird es eine Jubiläumsausstellung von Tanit in München geben. "49 Künstler in Petersburger Hängung", verspricht Naila Kettaneh-Kunigk. Material aus 50 Galeriejahren. Da ist ganz schön was zusammengekommen.

50 Jahre Tanit: "Paper Trail", Reisingerstr. 6 RG, Eröffnung: Mi., 23. Nov., 11-18 Uhr, bis 23. Dez.

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