Forschungsprojekt:Realer Wald in der virtuellen Welt

Lesezeit: 4 min

Forststudenten der TU Weihenstephan lernen jetzt an einem Wachstumssimulator, welche Folgen es haben kann, wenn man unbedacht das Ökosystem Wald verändert.

Von Charline Schreiber, Freising

Als Teil des Lehrprojekts "Forest and Technology" setzten zwei Dozenten der Technischen Universität München (TUM) in Freising ein aktuelles Thema der Forstwissenschaft um. Sie versetzen den realen Waldbestandes in eine virtuelle Welt. So können Studierende zukünftig die Durchforstung eines Waldes simulieren und die Auswirkungen ihrer Handlungen bewerten. Michael Suda vom Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik und Hans Pretzsch vom Lehrstuhl für Waldwachstumskunde sind dafür kürzlich mit dem Ernst-Otto-Fischer Lehrpreis ausgezeichnet worden. Eine Auszeichnung, die jährlich bis zu drei innovative Projekte an der TUM ehrt und das Engagement herausragender Dozierender würdigt.

Tobias Hilmers ist Doktorand am Lehrstuhl für Waldwachstumskunde und hat unter der Aufsicht von Hans Pretzsch den Waldwachstumssimulator entwickelt. Die Studierenden sollen so das Wissen, das sie während des Studium erwerben, in der Praxis umsetzen können und verstehen, dass bei ihren zukünftigen Arbeitgebern zwei Welten aufeinandertreffen werden - eine reale und eine virtuelle.

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Diese virtuelle Welt kann Hilmers einfach in seinem Büro auf seinem Computerbildschirm aufrufen. Er deutet mit seinem Finger auf einen quadratischen Ausschnitt, der über 500 geometrische Formen unterschiedlicher Größe und Farbe zeigt. "Das hier, das rote, das ist ein Reinbestand Fichten." Diese Fichten, nehmen augenscheinlich zwei Drittel des Waldausschnitts ein. Aber auch nordamerikanische Douglasien, die Ockerfarben gekennzeichnet sind und Buchen, die sich leuchtend grün zu erkennen geben, gliedern sich im unteren Drittel ein.

Das, auf was Hilmers da zeigt, ist der Simulator, ein Marteloskop. Auf dieser virtuellen Übungsfläche, die einen Waldstück 5,5 Kilometer entfernt vom Campus spiegelt, können Eingriffe in den Forst vorgenommen und dessen ökonomische und ökologische Wirkung unmittelbar beurteilt werden. Auf der Basis der tabellarischen Werte, die der Simulator daraufhin ausgibt, können die Studierenden dann Entscheidungen treffen. Der Grund für die Entnahme von Bäumen, sagt Hilmers, liege darin, dass sie groß genug sind oder eine Konkurrenz für andere Bäume darstellen.

Das Marteloskop ist in diversen Waldbeständen Europas vielfach vertreten und somit keine Erfindung der TUM. "Was aber ganz neu ist, ist die Tatsache, dass wir mit dem Marteloskop in die Zukunft schauen können", erzählt Hilmers und meint damit, dass die Auswirkungen, die gegenwärtige Eingriffe beispielsweise in 20 Jahren haben, bestimmt werden können. Auch deswegen trägt der Waldwachstumssimulator an der TUM den Namen "Smarteloskop". Nicht einbezogen werden aktuell Risikofaktoren der Umwelt, wie der Borkenkäfer oder Stürme. Diese müssten erst noch angelegt werden, so der Forstwissenschaftler. So sollen über Klimavorhersagen zukünftig Störungen des Ökosystems integriert werden.

Für die Studierenden bietet sich durch das Projekt die Möglichkeit, sich mit Kommilitonen zu vergleichen: Nehmen zwei Nutzer unterschiedliche Eingriffe im Ökosystem vor und entfernen Bäume, kann beobachtet werden, wie gut die Studierenden in den unterschiedlichen Gesichtspunkten abschneiden. Wie verändert sich die Holzproduktivität? Bleibt der Wald stabil oder besteht das Risiko, dass er zusammenbricht? Was hat der Eingriff für eine Auswirkung auf Mikrohabitate und die Biodiversität? Wie verändert sich die Dichte des Waldes? "Fichten, die neben einer Buche stehen, wachsen zum Beispiel besser als eine Fichte, die direkt neben einer Fichte steht", erklärt Hilmers. Diese Faktoren lernen die Studierenden zu beachten und können durch die Simulation und den Austausch untereinander einen Mittelweg für die Durchforstung finden. In der Forstwirtschaft gehe es oft darum, möglichst ökonomisch und lukrativ zu sein. Dabei werden die Folgen der Eingriffe nicht bedacht, die Studierenden sollen aber schon in ihrer Ausbildung "Weitblick lernen", findet der Forstwissenschaftler.

Diesen Weitblick geben den Studierenden Michael Suda und Hans Pretzsch in der Lehre. Eben weil das Projekt eine Fusion einer virtuellen und realen Welt ist, lädt Suda ein, ihn und seine Frau Beatrix Enzenbach, Mitarbeiterin in der Abteilung Biodiversität, Naturschutz und Jagd, zur Übungsfläche zu begleiten.

Auf der zehnminütigen Fahrt von der Universität zum Waldbestand, schwärmt Suda von der Zusammenarbeit mit seinen Studierenden. Erst am Ende der Waldbesichtigung gesteht er, dass er und Hans Pretzsch mit dem Gewinn des Lehrpreises nicht gerechnet haben. Vom Parkplatz "Kleiner Spessart" am Freisinger Weltwald sind es nur wenige Meter zu der Waldsektion, die im Marteloskop zu sehen war. Auf der linken Seite des verschneiten Waldweges habe der Förster den Fichtenwald mit Buchen unterbaut, erwähnt Suda beiläufig. Nehme dieser jetzt Fichten heraus, seien bereits Verjüngungen, also neue Bäume, vorhanden. "Das ist dann der Optimalfall, für unser Waldstück haben wir uns absichtlich etwas ausgesucht, dass diesen Bedingungen nicht entspricht."

Die Entscheidung für die Auswahl des Bestandes sei außerdem auf der Grundlage getroffen worden, dass dieser eine Vegetation darbietet, die natürlich in der Umgebung vorkomme. Die Bayrischen Staatsforsten stellen der TUM den Bestand zur freien Verfügung, hebt Suda hervor. Letztendlich sei die endgültige Wahl ein Kompromiss gewesen. "Aber ein sehr guter Kompromiss", findet der Dozent. Denn unterdessen ist die Übungsfläche durch die Nähe zum Campus für die Studierenden gut zu erreichen. Hinzu komme, dass der Wald, unabhängig von den Studien, weiter bewirtschaftet werde, erzählt er.

Die Nummern, die in der virtuellen Ansicht im Büro von Tobias Hilmers zu sehen waren, sind in weißer Farbe und auf Augenhöhe auf die jeweiligen Baumstämme gesprüht. Auffällig sind die Rinden, die mit einer Wellenform gekennzeichnet sind. "Diese Bäume sind verletzt, das bedeutet in ihnen bilden sich Einkerbungen, die einen hohen ökologischen Wert haben", sagt Beatrix Enzenbach. Sehe man einen Wald durch die Brille der Ökonomie, würden diese verletzten Bäume gefällt werden, um Platz für die gesunden Bäume zu schaffen. Durch die Naturschutzbrille betrachtet, bieten grobe Rindenstrukturen, Längsrisse im Stamm oder löchrige Mulden im Holz ein Habitat für Insekten, Pilze oder Vögel, betont Enzenbach. In den vergangenen Jahren habe sich die Ausbildung dahingehend verändert. Die ökonomische Optimierung eines Waldes stünde nicht mehr im Vordergrund. "Wir wollen, dass Menschen sehen, was dahintersteckt. Ein Wald ist mehr als 1000 Bäume", bekennt Suda.

Noch ist der Waldwachstumssimulator ein Prototyp. Im kommenden Sommersemester soll dieser dann aber seine erste Anwendung mit Studierenden finden. Durch die Rückmeldungen und Anregungen soll das System dann verbessert werden.

© SZ vom 30.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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