Der erste Arbeitstag ist geschafft. Wie in jedem Jahr startete am 1. September in vielen Betrieben in ganz Deutschland das Ausbildungsjahr. Auch im Landkreis Freising haben mehrere hundert Jugendliche ihre Lehre begonnen - zahlreiche Plätze sind allerdings unbesetzt geblieben. 374 Stellen waren Ende August noch vakant.
Obwohl man vermuten könnte, dass der Fachkräftemangel aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten durch die Pandemie nicht mehr so ausgeprägt ist, sieht die Realität anders aus: Denn dieser ist nach Angaben des Ifo-Instituts so hoch wie seit 2018 nicht mehr. "In ganz Bayern bleiben jedes Lehrjahr Tausende Stellen unbesetzt, weil einfach die Bewerberinnen und Bewerber fehlen", sagt Florian Reil, Pressereferent der Industrie- und Handelskammer (IHK) für München und Oberbayern. Auch im Landkreis Freising waren laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit von den insgesamt 982 gemeldeten Ausbildungsstellen Ende August noch 374 unbesetzt, das sind 17 mehr als vor einem Jahr. Spitzenreiter ist der Einzelhandel: 42 Kaufmänner oder -frauen werden dort zu Beginn des Ausbildungsjahres noch gesucht. An zweiter und dritter Stelle stehen Kaufmänner oder -frauen für Speditions- und Logistikdienstleistungen (25 freie Stellen) und Medizinische Fachangestellte (22 Stellen).
Ähnlich ist die Situation im Handwerk. "Wir ergreifen schon seit Jahren gewisse Maßnahmen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken" sagt der Freisinger Kreishandwerksmeister Martin Reiter. "Normalerweise gehen wir in Schulen, aber im letzten Jahr ging das pandemiebedingt nicht." Um das auszugleichen, habe die Handwerkskammer nun Internetseiten gestaltet, um die Rekrutierung virtuell zu versuchen. Die Präsenzveranstaltungen in der Schule ersetze das jedoch nicht, sagt Reiter. Ein weiteres Problem: "Viele wissen einfach nicht, dass es über 130 Handwerksberufe gibt, zu denen nicht nur Elektriker gehören, sondern auch der Tontechniker oder der Augenoptiker. Das sind alles handwerkliche Berufe."
Auch die IHK betreibe bereits seit Jahren Maßnahmen, um den Mangel auszugleichen. "In Freising haben wir beispielsweise unsere Bildungspartnerschaften", schildert Florian Reil. "Das ist ein Projekt, bei dem örtliche Unternehmen mit lokalen Schulen eine Kooperation eingehen." Die Unternehmen böten Praktika und Unterstützung bei Bewerbungen an und sie ermöglichten Einblicke in den Berufsalltag vieler oftmals wenig bekannter Ausbildungsberufe.
Die Pandemie hat zumindest sowohl bei der IHK als auch bei der Handwerkskammer zu keinem weiteren Rückgang der Bewerberzahlen im Landkreis geführt. "Zuerst hatten wir die Befürchtung, dass sich die Pandemie negativ auf die Bewerberzahlen auswirken könnte, aber das hat sich bisher nicht bewahrheitet", sagt Reiter. "Das sind sicherlich noch die Nachwirkungen der massiven Besuche der Schulen in den letzten Jahren". Am Anfang seien sie teilweise belächelt worden, da sie so viel Geld und Zeit in ihren potenziellen Nachwuchs investierten, schildert der Kreishandwerksmeister - das habe sich jedoch letztendlich ausgezahlt.
Auch Florian Reil betont, dass Corona die Maßnahmen zur Berufsorientierung enorm erschwert habe. Sowohl Praktika als auch Ausbildungsmessen und Schulbesuche, die dazu dienen sollen, die Stärken der dualen Ausbildung aufzuzeigen, seien oftmals gar nicht oder nur in sehr eingeschränkter Form möglich gewesen.
Zusätzlich habe die Pandemie sowohl negative Auswirkungen auf die Bewerberinnen und Bewerber als auch auf die Ausbildungsbetriebe. Während die Unternehmen teilweise selbst stark von den Lockdown-Einschränkungen betroffen waren, hätten die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen ebenfalls mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen. "Nachdem schon im vergangenen Jahr zahlreiche Lehrstellen in der Region unbesetzt blieben, haben manche Betriebe die aktive Suche nach Auszubildenden aufgegeben", bilanziert Otto Heinz, IHK-Vizepräsident und Vorsitzender des IHK-Regionalausschusses Erding-Freising.
Für die weiterhin von Corona-Beschränkungen betroffenen Branchen wie Gastronomie, Tourismus und den Veranstaltungssektor sei die Perspektive ohnehin sehr schwierig. Selbst wer Ausbildungsplätze anbiete, habe dort mitunter große Probleme, überhaupt Bewerberinnen und Bewerber zu finden. "Wir setzen dennoch weiter auf einen Aufholeffekt bis zum Ende des Jahres. Unversorgte und unentschlossene Schulabgänger haben auch jetzt noch alle Chancen, eine geeignete Ausbildungsstelle zu finden", sagt Heinz. Ziel sei auch in diesem Jahr, dass jeder ausbildungswillige Schulabgänger einen Ausbildungsplatz bekomme.
Die IHK sieht einen Teil der Verantwortung bei der Politik. Da diese für die Rahmenbedingungen des Ausbildungssystems zuständig ist, sei es ihre Aufgabe, das System moderner und flexibler zu gestalten, sagt Reil. "Wir haben jetzt vor der Bundestagswahl Forderungen erstellt." Das berufliche Ausbildungssystem müsse in der kommenden Legislaturperiode attraktiver und zeitgemäßer werden. Alle bestehenden Ausbildungsordnungen sollten alle drei Jahre auf ihre Aktualität hin überprüft und modernisiert werden, fordert die IHK. Zudem sollten neue Ausbildungsberufe innerhalb von eineinhalb Jahren entwickelt und dann auch auf dem Markt eingeführt werden, so Reil.
Wie viele Ausbildungsstellen im Landkreis Freising tatsächlich vakant sind oder vergeben werden konnten, ist unklar, die Zahl dürfte sogar um einiges höher liegen. Denn die Statistik der Bundesagentur für Arbeit kann nur diejenigen berücksichtigen, die von den Unternehmen der Region auch dort gemeldet werden.