SZ-Adventskalender:Familien in der Krise total überfordert

Lesezeit: 3 min

Familien waren im Lockdown an ihrer Belastungsgrenze. Viele bitten erst jetzt um Hilfe. (Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa)

In vielen Familien macht sich die Belastung der vergangenen Monate durch Existenzängste, Home-Office und Home-Schooling jetzt verstärkt bemerkbar.

Von Gudrun Regelein, Freising

Viele Eltern seien in der Corona-Krise total überfordert gewesen, hätten nur noch funktioniert, sagt Dietrich Arnold, Psychologe in der Erziehungsberatung der Caritas Freising. "Ihre Belastung in den vergangenen Monaten war enorm - gerade auch während der langen Monate des Homeschoolings im Lockdown." Erst jetzt, viele Monate später, suchten sich zahlreiche Eltern Hilfe. "Die übergroße Belastung wurde in vielen Fällen erst mit Verzögerung wahrgenommen, der Punkt, als die eigene Grenze überschritten wurde, übersehen", so Arnold. Der SZ-Adventskalender für gute Werke will Betroffene unterstützen, damit sie durch die Krise kommen.

Seit Jahresbeginn sei die Zahl der Anfragen in der Erziehungsberatung kontinuierlich gestiegen, schildert der Psychologe. Anna Lechner (Name geändert) beispielsweise suchte sich dort Hilfe. Sie ist eine alleinerziehende Mutter, die in der Corona-Krise ihren Job verloren hat. "Frau Lechner ist überschuldet und steckt in einem großen finanziellen Engpass", schildert Arnold. Sie lebt mit ihrem Sohn auf engem Raum, mit diesem habe sie früher ein sehr gutes Verhältnis gehabt, zuletzt aber gebe es immer häufiger Diskussionen und Streit, oft drohe die Situation zu eskalieren.

Newsletter abonnieren
:SZ Gerne draußen!

Land und Leute rund um München erkunden: Jeden Donnerstag mit den besten Freizeittipps fürs Wochenende. Kostenlos anmelden.

Anna Lechner sei überfordert, "sie fühlt" sich hilflos, sagt Arnold. "Sie muss erst einmal wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen." Ihr müsse wieder eine Perspektive gegeben werden. Dazu gehöre zunächst, sie mithilfe der Schuldnerberatung aus der Schuldenspirale zu holen. "Wir als Erziehungsberatung werden ihr dann vermitteln, wie sie es schafft, im Umgang mit ihrem Sohn angemessene Grenzen zu setzen."

Oft seien es multikomplexe Probleme, mit denen die Eltern kommen, berichtet der Psychologe. Kurzarbeit, ein Job im Niedriglohnsektor, Angst vor Arbeitslosigkeit, drohender Wohnungsverlust, finanzielle Nöte - mitunter fehle sogar das Geld, um die Stromrechnung zu bezahlen. Dazu noch die Corona-Krise on top mit Homeschooling und Kindern, die deswegen selber große Ängste haben. Eltern aber seien keine Therapeuten, auch sie seien überfordert und bräuchten eigentlich selber Unterstützung.

Arnold erzählt von einer 16-Jährigen, eigentlich eine sehr gute, fast schon perfektionistische Schülerin. Das Mädchen habe sich in der Krise total zurückgezogen, seine sozialen Kontakte gingen gegen Null. Daneben habe sie inzwischen große Angst, in der Schule zu versagen. Die Eltern, beide im Home-Office, seien mit der Situation nicht mehr zurecht gekommen - aber die Familie habe irgendwie weitergemacht.

Bis die Tochter und parallel die Muter in eine schwere Krise gerieten. Beide sind nun in therapeutischer Behandlung. "Unser Ziel in der Erziehungsberatung ist, die Strukturen in der Familie wieder zu stärken, ihr wieder den Rhythmus, der verloren ging, zurückzugeben", erklärt Arnold. Eine gemeinsame Mahlzeit am Tag könne da schon der Anfang sein.

Viele Eltern hätten zu lange nur noch funktioniert. Sie wurden in der Krise während des Homeschoolings in eine Rolle hineingedrängt, für die sie nicht ausgebildet sind. Die allermeisten Eltern hätten zwar versucht, ihre Kinder zu unterstützen, aber: "Sie sind nun mal keine Lehrer und sie sind keine Psychologen", sagt Arnold. Dazu kam gerade in der Anfangsphase der Krise die Angst vor dem neuen Virus und einer Ansteckung. "Das war alles diffus, nicht greifbar." Das gewohnte Leben gab es urplötzlich nicht mehr. In dieser Situation sei es sehr schwierig gewesen, auch noch den Kindern Sicherheit zu geben.

In der Erziehungsberatung gehe es zunächst darum, den Eltern einen Raum zu schaffen, in dem von den eigenen Problemen erzählt werden darf. Ohne dass dies bewertet wird. Viele Eltern hätten beispielsweise ein schlechtes Gewissen, weil ihr Kind in den vergangenen Monaten viel zu viel Zeit vor dem Computer verbracht hat, erzählt Arnold.

Wenn sie hören, dass es anderen Familien genauso geht, schaffe das schon einmal Erleichterung. In kleinen Schritten gehe es dann darum, wieder mehr Struktur, mehr Sicherheit zu bekommen. "Wir schauen, wo es Ressourcen gibt und setzen positive Ziele." Bedürftige Familien dagegen bräuchten nicht nur die Beratung, sagt Arnold. "Sondern auch eine handfeste finanzielle Hilfe."

Eltern zu sein, sei schon vor der Corona-Pandemie nicht einfach gewesen. Nun aber seien viele absolut überfordert, etwa 80 Prozent seien am Limit. Die Krise habe nun schon so lange gedauert, bei vielen sei die Kraft aufgebraucht. Alle hätten im Sommer gehofft, dass es vorbei ist. "Nun gibt es einen Turnaround. Und das schafft erneut Verunsicherung und eine auch psychische Überforderung."

© SZ vom 18.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFamilien und Corona
:"Viele sagen, sie würden die Kinder nur mehr anschreien"

Früher kamen die Frauen nahe am Burn-out im Müttergenesungswerk an. Jetzt sind viele bereits im Burn-out, sagt Geschäftsführerin Yvonne Bovermann. Ein Gespräch über das, was die Pandemie Familien zumutet - und den Punkt, an dem man sich Hilfe holen sollte.

Von Verena Mayer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: