Kunst im Bunker:Goyas Blätter des Grauens in 50 000 Kreuzstichen

Lesezeit: 3 min

Spannende Überlagerung: Goyas Grafiken, auf ihre Essenz abstrahiert und in traditioneller ukrainischer Rushnyk-Technik verstickt. Hier das Motiv "Grande hazana! Con muertos! - Große Heldentat! Mit Toten!" aus dem Zyklus des spanischen Künstlers. (Foto: Saskia Wehler)

Zusammen mit ukrainischen Frauen hat Künstlerin Caro Baumann Motive aus dem berühmten Anti-Kriegszyklus "Los Desastres de la Guerra" in abstrakte Stickkunst übersetzt. Eine bewegende Ausstellung in der Architekturgalerie.

Von Jutta Czeguhn

Knapp 1200 Menschen, so jedenfalls die Pläne der Erbauer im Jahr 1941, konnten Schutz finden im Hochbunker an der Blumenstraße. Also 200 auf jeder der sechs Etagen. An diesem Juni-Abend sind es an die 60 Besucherinnen und Besucher, die im ersten Stock auf kleinen Hockern sitzen, einige müssen stehen. Wer noch nie hier war, den beschleicht ein beklemmendes Gefühl von Enge in diesem fensterlosen, gedrungenen Raum. Unwillkürlich bewegt man sich geduckt, zieht die Ellbogen nah an den Körper und erspäht erleichtert an der Decke die Lüftungsanlage. Was für ein Ort, um Francisco de Goyas "Los Desastres de la Guerra" zu begegnen.

Diese schonungslose Grafikfolge, erstveröffentlicht 1863, in der der Künstler den universellen Verlust jeder Menschlichkeit im Krieg darstellt. Genial radiert, abgründig und am Ende ohne jede Hoffnung darauf, dass sich die menschliche Natur je ändern werde. Dass Goya mit seinem Nihilismus nur allzu recht hatte, zeigt jetzt eine Ausstellung im ehemaligen Münchner Luftschutzbunker. Auf erstaunliche Weise führt hier ein roter Faden vom weltbekannten "Desastres"-Zyklus, der während Napoleons Okkupation Spaniens entstand, direkt zum Krieg in der Ukraine. Geflüchtete Ukrainerinnen haben virtuos die Sticknadel geführt.

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"Rushnyk - Desastres de la Guerra. Bilder von Krieg und Frieden" heißt die Schau im Klotz nahe der Schrannenhalle, der heute einer der interessantesten Kulturorte der Stadt ist. Die Architekturgalerie München hat ihn gemietet und ist seit 2016 dabei, dieses sehr spezielle Gebäude, das keine Heizung hat und kein Foyer, zu einem veritablen Kunstraum umzuwandeln. Die Historie des Baus war es auch, die die Bayerische Staatsoper auf die Idee brachte, den Bunker für ihr "Stelldichein! Nummer 4" zu wählen. Eine Veranstaltungsserie mit diesem etwas altmodisch-lieblichen Namen, welche lose an die jeweiligen Saison-Premieren anknüpft und das Publikum an Orte abseits der üblichen Spielstätten führt. Für Sergej Prokofjews Monumentaloper "Krieg und Frieden", die lange vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges auf den Spielplan gesetzt war, lag die Wahl des Bunkers nahe.

"Krieg und Frieden" wurde 2018 programmiert. Und dann kam der Krieg in der Ukraine und gab der Inszenierung eine andere Dringlichkeit. (Foto: Wilfried Hösl)

Für die Staatsoper geriet das Opernprojekt angesichts der weltpolitischen Entwicklungen bekanntlich zur Zerreißprobe, die Regisseur Dmitri Tcherniakov und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski an ihre Grenzen brachte. Doch das Ergebnis (Premiere im März) war dann, ganz im Sinne Goyas, ein eindringliches Plädoyer gegen den Krieg. Das szenisch zudem in einem geschlossenen Raum, dem Saal im Haus der Gewerkschaften in Moskau, spielt, in das sich Menschen geflüchtet haben.

Kennen sich vom Architekturstudium in den Neunzigern an der TU München: Nicola Borgmann, Leiterin der Architekturgalerie, und Künstlerin Caro Baumann (von links). (Foto: Saskia Wehler)

Von dieser Dramaturgie konnte Nicola Borgmann, Leiterin der Architekturgalerie, so noch nicht wissen, als vor mehr als einem Jahr die Anfrage der Oper für das Stelldichein kam und sie begeistert zusagte. Doch sollte zwischen den 1,30 Meter dicken Bunkerwänden nicht nur einmalig, wie jetzt vergangene Woche bei der Vernissage, Musik ukrainischer Komponistinnen zu hören sein. Borgmann wollte das "Krieg und Frieden"-Rendezvous zum Anlass für eine besondere Ausstellung nehmen. Und dazu fielen ihr ihre Freunde Caro Baumann und Johannes Schele ein, zwei Künstler, "die einen überzeugten Pazifismus in sich tragen."

Eine Stadt im Frieden? Künstler Johannes Schwele hat 2010 während einer Vortragsreise Ansichten von Kiew fotografiert, an einem autofreien Sonntag, knapp vier Jahre vor den Maidan-Protesten. (Foto: Saskia Wehler)

Baumann und Schele (von ihm sind im zweiten Stock des Bunkers verfremdete Fotografien eines Kiew in Friedenszeiten zu sehen) gründeten bereits während ihres Architekturstudiums an der TU München 1997 das Büro "morePlatz" und arbeiten heute von Berlin aus. In Berlin war es auch, wo Caro Baumann wenige Tage nach Kriegsbeginn bei ihren Internet-Recherchen über die Ukraine auf das Rushnyk-Museum in Kiew stieß. Zu sehen dort: traditionelle Stickereien in Rot-Weiß mit elaborierten, streng geometrischen Mustern, die in der Ukraine zumeist Ritus-Tücher für Geburten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen zieren. Baumann war fasziniert, zumal sie vor Jahren selbst mit Stickkunst gearbeitet hatte. Beim Nachzeichnen der Rushnyk-Ornamente hatte sie dann spontan Goyas "Los Desastres de la Guerra" vor Augen und kam auf die Idee, diese Schreckensbilder in der alten ukrainischen Sticktechnik darzustellen.

Manche Werke bestehen aus bis zu 50 000 Kreuzstichen, alle über Monate in Handarbeit von Caro Baumann und den ukrainischen Frauen gestickt. (Foto: Saskia Wehler)

"Durch die Überlagerung der beiden Kunstformen entsteht eine Art Wechselwirkung", so Baumann. In der Tat, man sollte diese Bilder mit einigem Abstand betrachten, dann erschließen sich schemenhaft wie grobe Scherenschnitte Goyas Menschenschlachtungen. Es scheint, so jedenfalls empfindet es Baumann, als zerstörten sich die beiden Kunstformen gegenseitig. Die strenge Ordnung der Rushnyk-Muster wird gesprengt durch das Schablonenhafte, die klare Geometrie der Kreuzstiche wiederum zersetzt Goyas virtuose Punktiertechnik in Aqua tinta. Bis zu 50 000 Stiche kann so ein Stickbild haben. Baumann fand in Berlin geflüchtete Frauen aus der Ukraine - unter ihnen Anna Babenko, Elena Dyhalo, Olena Shu und Ksenia Sobotvych - die diese komplexe Technik noch beherrschen. Mit ihnen saß sie dann über Monate an den Bildern. Eine meditative Arbeit, die ihr das Schicksal der Frauen nahebrachte und geholfen hat, aus dem Gefühl der eigenen Hilflosigkeit herauszukommen.

Durch die Wahl des Ausstellungsortes erhalten diese an sich schon eindringlichen Arbeiten eine zusätzliche Tiefe. Man sieht Menschen vor sich, die wie zu allen Zeiten in Schutzräumen ausharren, und stoisch verzweifelt - um sich und andere von der allgegenwärtigen Todesangst abzulenken - einen Kreuzstich nach dem anderen setzen. Mit rotem Faden.

"Rushnyk - Desastres de la Guerra. Bilder von Krieg und Frieden" , bis 6. 7., Mo - Fr, 12 - 18 Uhr, Architekturgalerie München, Blumenstraße 22, Zugang via Zuhörraum auf dem Platz vor dem Hochbunker, Infos unter www.architekturgalerie-muenchen.de

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