Flüchtlinge:"Das Ganze war so jämmerlich, dass ich entsetzt war"

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Die Psychologin Helga Poschenrieder weiß, wie traumatisch eine Flucht sein kann. (Foto: Stephan Rumpf)

Vor 71 Jahren flüchtete Helga Poschenrieder aus Budapest. Nun hat die Münchnerin Ungarn besucht. Sie hat Mitleid mit den Flüchtlingen dort.

Interview von Nina Bovensiepen und Tom Soyer

Seit Wochen kommen Zehntausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, nach München. Die meisten davon über Ungarn. Helga Poschenrieder, 79 Jahre alt, Diplom-Psychologin im Ruhestand, war vor Kurzem in Budapest und hat erlebt, wie die Menschen dort behandelt werden. Als Achtjährige flüchtete die gebürtige Ungarin auf der gleichen Route mit ihrer Familie nach München.

SZ: Frau Poschenrieder, Sie waren in der Woche, in der die ersten Flüchtlings-Sonderzüge nach München kamen, in Budapest. Was haben Sie dort erlebt?

Helga Poschenrieder: Wir wollten Budapest eigentlich besuchen, um die Stätten unserer Kindheit anzuschauen. Unsere Verwandtschaft hat uns dann schon gesagt, dass wir eine Station früher aussteigen sollen, Keleti sei unmöglich, da sei alles voller Migranten, "Migránsok", wie es auf Ungarisch heißt. Ich wollte aber sehen, was los ist, und bin am dritten Tag hin.

Zwischen der U-Bahn unten und dem Bahnhof oben gibt es ein an den Seiten offenes Zwischengeschoss, und dort war kein Durchkommen. Die Leute sind gelegen, gesessen, gestanden, auf einer Decke oder Zeitung, viele Schlafende, und das Ganze so jämmerlich, dass ich entsetzt war.

Hat sich jemand um sie gekümmert?

Da hat sich keine Seele gekümmert.

Und Polizei?

Hinter der Fläche, wo die Flüchtlinge waren, ist etwas freier Platz, dort stand die Bereitschaftspolizei vorm Bahnhofseingang, dicht an dicht. Für die Flüchtlinge war kein Durchkommen. Ich habe einen gesehen, der ein Papier hatte, vielleicht eine Fahrkarte, den haben sie auf Abstand gehalten. Ich dagegen konnte ohne Weiteres rein.

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Helfer waren keine dort?

Nein. Ich habe später gehört, dass es das gelegentlich gab, aber es ist auch schwierig. Ich wusste selber nicht, was ich hätte tun können. Man ist überwältigt von den vielen Leuten, von dem Elend. Wenn bei uns eine Viehherde irgendwo so gehalten würde, wäre der Tierschutzverein sehr schnell da. Das muss Kalkül sein, ich kann es nicht anders interpretieren.

Dass man die Menschen dort liegen lässt und sieht, was passiert. Ob sie einen Anlass geben, dass die Polizei gewalttätig wird. Oder ob sie letztlich woanders aufgenommen werden. Sie sind einfach ein Spielball.

Die Menschen haben sich dann ja auch auf den Weg gemacht.

Das haben wir nicht mitgekriegt. Wir waren die nächsten zwei Tage außerhalb von Budapest und hatten kein Fernsehen. Ich habe erst am Donnerstag, bevor wir zurückfahren wollten, mitbekommen, dass sie am Dienstag alles überrannt haben. Aber dann waren sie ja in Bicske, wo man sie einfach hat stehen lassen im Zug. Und das bei 30 Grad Hitze.

Sie haben den Weg der Flüchtlinge vor 71 Jahren selbst auf genau dieser Route genommen. Wie war das damals?

Eines Abends kam mein Vater und hat gesagt, ihr müsst weg, es ist die letzte Möglichkeit, einen Zug nach Wien zu kriegen. Wir sind fast stehenden Fußes ab zum Bahnhof, zum Zug, weg. Die Russen rückten immer näher. Wenig später war Budapest eingekesselt. Mein Vater war zum ungarischen Militär eingezogen, er ist letztendlich desertiert. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber am zweiten Weihnachtstag kam er bei uns in Lochham an.

Überraschend?

Ja. Meine Mutter hat ihn nicht erkannt, so hat ihn diese Zeit verändert. Sie hat ihn gefragt: Was wünschen Sie?

Werden jetzt die Erinnerungen wieder wach, wenn so viel über Flucht berichtet wird?

Oh ja! Wir sind damals mit dem Taxi zum Bahnhof, und ich habe hinten rausgeschaut und sehr starke Empfindungen gehabt, weil wir wegmussten. ( Auch jetzt überkommen Helga Poschenrieder, mit feuchten Augen, die Erinnerungen.)

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Viele Menschen sind nun begeistert von dem Willkommen, das München den Flüchtlingen bisher geboten hat.

Ja, das finde ich ganz großartig. Im Gegensatz zu dem, was die bisher erlebt haben, ist das ja eine riesige Erleichterung.

Trotzdem gibt es Diskussionen, wie lange diese Hilfsbereitschaft anhalten wird und wie viele Menschen kommen.

Das wundert mich nicht. Das ist ein Dilemma, denn es werden dadurch mehr kommen. Doch wie kann man das abwenden wollen, indem man die ersten misshandelt? Aber sicher: Das Mehr ist auch schwer zu verkraften.

Teilen Sie diese Sorge?

Ich persönlich nicht, aber ich weiß nicht, wie lange das gut geht. Weil es eben Menschen gibt, die sehr massiv gegenarbeiten. Es brennt doch alle naslang irgendwo was. Das ist es, was mir Sorgen macht. Dabei, wenn jetzt 400 000 da sind, dann sind das 0,5 Prozent im Vergleich zu unseren Einwohnerzahlen, das muss doch gehen!

Als Sie damals kamen als Achtjährige, gab es da auch eine Willkommenskultur?

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Nein, da war einfach große Aufregung, das war ja noch mitten im Krieg. Hier in München gab es nach unserer Ankunft noch schwere Luftangriffe. Es wurde darüber noch gar nicht geredet, der große Flüchtlingstreck war ja damals noch gar nicht losgegangen, etwa aus Ostpreußen, die sind erst '45 gekommen.

Wir hatten das Glück, dass wir bei einer Schwester meiner Mutter in Lochham unterkommen konnten. Das war paradiesisch im Vergleich, im Einfamilienhaus. Die hatten keine Kinder und haben uns halt aufgenommen. Glück gehabt!

Wie war das Ankommen als Flüchtling hier in München?

Für uns Kinder war es so, als ob wir zu Tante und Onkel fahren. Wir haben es nicht in Gänze überrissen. In Gräfelfing, wo ich zur Schule gehen musste, hat sich meine Mutter fast zerkriegt mit meiner Lehrerin. Wir haben zu Hause deutsch gesprochen, es war Schuljahresanfang und die Lehrerin wollte mich ein Jahr zurücksetzen.

"Die kann doch sicher nicht genug Deutsch", sagte sie. Da ist meine Mutter in die Luft gegangen - und hat durchgesetzt, dass ich in die nächste Klasse kam. Es ging auch gut.

Sie haben als Psychologin mit Traumatisierten gearbeitet. Wie traumatisch ist so eine Flucht, wie sie jetzt viele Menschen erleben?

Sehr. Allein die Stationen dieser Flucht sind furchtbar. Absolute Verunsicherung für ein Kind - es gibt vielleicht nichts mehr außer dieser einen Hand von Vater oder Mutter. Und wenn das auch nicht gut klappt, und das ist ja auch oft vorgekommen, dass Leute getrennt worden sind, das ist ganz, ganz schlimm. Und es ist schwierig, danach Fuß zu fassen. Solche Erlebnisse wie ein guter Empfang helfen natürlich riesig!

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Haben Sie sich die Lage am Münchner Bahnhof angeschaut?

Nein, ich war nicht dort. Mich würde bedrücken, dass ich da stünde und nicht wüsste, was ich tun soll. Irgendetwas aushändigen? Vielleicht, ja. Hier in Garching haben wir seit März auch an die hundert Asylbewerber, die Hilfsbereitschaft ist groß. Nur manchmal ist das Landratsamt bürokratisch, dass man's nicht für möglich hält.

Sind Sie auch helfend aktiv?

Ja, ich hab mich von Anfang an gemeldet und vorab einen Kurs gemacht, eine Einweisung für Deutschkurse. Aber es sind tatsächlich so viele Helfer, dass es für mich noch gar nicht dazu gekommen ist.

In Garching helfen viele, in Europa dagegen halten sich viele zurück. Was wäre nötig?

Viele Länder stellen sich stur. Ich finde das schrecklich. Viele dieser Länder, die da nicht mithelfen, sind ja "Empfänger" in Europa - die würde ich nicht mehr so unterstützen. Wenn ich mir die U-Bahn in Budapest anschaue, sehe ich, dass die neuen Linien bombastisch sind.

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Die sind sicher mit EU-Geld gebaut worden. Ich finde es enttäuschend, wenn die Ungarn im Gegenzug nicht helfen. Die Tendenz, sehr nationalistisch zu sein, hatten sie immer schon, auch heute wieder diese fantastische Idee, dass man Groß-Ungarn wieder herstellen könnte. Das geht doch gar nicht! Unsinnig!

Sie haben in Ihrer eigenen Familie sehr viel Europa . . .

Ja, die vereinten Nationen! Schwiegersöhne von der Krim und aus Neapel, die Schwiegertochter aus Bozen. Ich bin im Kopf natürlich deutsch, aber das ist für mich nichts, was Identität stiftet. In unserer Familie gab es auch in den vorhergehenden Generationen so ziemlich alles.

Was ist dann für Sie "Heimat"?

Jetzt hier. Trotzdem zieht es mich immer noch nach Budapest. Ich würde aber nicht mehr dort leben wollen, obwohl ich sicher bald wieder genug Ungarisch könnte.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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