Tikum Olam, die Reparatur der Welt - was für ein schöner Begriff. Im Grunde sei das ein humanistischer Auftrag, erläutert Eva Haller, aber er sei "gerade uns Juden in den frühen rabbinischen Schriften besonders ans Herz gelegt": Man kommt auf die Welt und hinterlässt sie ein bisschen besser, wenn man wieder geht.
Natürlich kannte auch Janusz Korczak (1878/oder 1879 bis 1942) diesen Begriff. Der polnisch-jüdische Arzt und Reformpädagoge leitete ein Waisenhaus in Warschau. Er begleitete seine Kinder im August 1942 bei der Deportation ins Vernichtungslager Treblinka und ging den Weg mit ihnen bis zum bitteren Ende, auch er wurde dort ermordet. Nach ihm ist eine 2009 in München gegründete jüdische Bildungseinrichtung benannt, die Europäische Janusz-Korczak-Akademie, deren Mitgründerin und Präsidentin Eva Haller ist.
Die EJKA sitzt, nach Jahren in der Sonnenstraße, nun in einem Altbau an der Blumenstraße, nahe dem Sendlinger Tor, schöne Räume über zwei Stockwerke. Eva Haller empfängt freundlich. Aber sie hat einen sehr, sehr vollen Terminkalender, schon nach einer halben Stunde wirft sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und signalisiert recht deutlich, dass man nun aber etwas das Tempo anziehen müsse im Gespräch.
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Haller ist 1948 in Rumänien geboren, ihre Mutter war Ungarin und hat das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Der Vater war russischer Jude, der vor den Pogromen nach Rumänien floh. Als Eva vier Jahre alt war, zog die Familie nach Wien; es folgten Umzüge und Aufenthalte in Amerika, Kanada, Belgien und Italien. Mit knapp 60 Jahren kam Eva Haller nach München. Sie hat nun einen deutschen Pass; auf die Frage nach ihren Wurzeln, wo und wie sie sich verorte, runzelt sie kurz die Brauen und sagt dann: "Zuallererst, ich bin Mensch. Und sehr wichtig, ich bin eine Frau. Und ich bin Jüdin. Und ich bin Europäerin."
Sie macht Synagogenführungen in sechs Sprachen
Sie hat an der Columbia University in New York und in Brüssel Journalismus studiert, in Tel Aviv dann romanische und semitische Sprachen. Sie arbeitete als Journalistin, unter anderem als Auslandskorrespondentin von Radio Judaica, war dann Assistentin in der Geschichts- und Literaturabteilung an den Universitäten von Padua und Venedig. Von 2006 bis 2009 war sie in der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde in der Jugendabteilung tätig, organisierte auch internationale Jugendaustausch-Programme. Bis heute macht sie Führungen durch die Ohel-Jakob-Synagoge am St.-Jakobs-Platz in München, in all den Sprachen, die sie beherrscht: Deutsch, Englisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch und Ungarisch.
2009 schließlich übernahm sie die Leitung der neugegründeten EJKA. Die Akademie will Wissen über jüdisches Leben vermitteln, Bildungsarbeit leisten, den interkulturellen und interreligiösen Dialog fördern und so Berührungsängste abbauen. Während die jüdischen Gemeinden (13 gibt es in Bayern) das innergemeinschaftliche Leben pflegen, "wollen wir das Bindeglied, die Brücke nach draußen sein", erklärt Eva Haller. Die Projekte sind vielfältig, alle fangen klein an in München, werden dann auf Bayern und schließlich auf ganz Deutschland ausgeweitet; auch in Berlin und Duisburg gibt es ein Janusz-Korczak-Haus.
Eine dieser Brücken ist "Youthbridge". Das über zwei Jahre laufende Projekt bringt junge Münchnerinnen und Münchner, jüdische, christliche und muslimische, aus verschiedenen Communities - sei es die türkische, russische, griechische, kroatische oder die der Sinti und Roma - zusammen; es soll Antisemitismus, Radikalisierung und Ausgrenzung entgegenwirken und die jungen Menschen dazu anspornen, sich für Vielfalt und Toleranz, für Demokratie und die Gesellschaft einzusetzen. Relativ jung sind "Fraueninsel", ein Integrationsprojekt für geflüchtete Frauen aus der Ukraine, sowie "Shalom Ukraine" für geflüchtete ukrainische Kinder und deren Angehörige, das vergangenes Jahr den bayerischen Verdienstorden bekam.
Zur Akademie gehören auch ein Familienzentrum, ein Forum für interkulturelle Begegnungen, ein kleiner Verlag. Auf Medienarbeit legen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonderen Wert; 2013 hat die Akademie das erste jüdische Medienkompetenzzentrum gegründet. Sie hat außerdem eine interaktive Ausstellung aufgebaut: "Mit Davidstern und Lederhose", jüdische Heimatgeschichte abseits altbekannter Stereotype. Ein weiteres Angebot trug den Titel "Rent a Jew": Juden gingen als Referenten in Schulen, Volkshochschulen, Unis oder Kirchengemeinden, wollten der Klischeebildung entgegentreten. "Nicht über uns, sondern mit uns reden", das ist Eva Hallers Leitlinie.
Sie selbst ist auch viel unterwegs, in ganz Bayern, in Schulen und anderen Einrichtungen. In Schulen sei sie besonders gern, sagt sie, "auch wenn ich schon weiße Haare habe". Der Umgang mit jungen Menschen, deren Ausdrucksweise, deren Körpersprache sei ihr vertraut , "schließlich hab' ich sieben Enkel". Außerdem hält sie nicht trockene Vorträge, sondern sie hat immer diesen Judaica-Koffer von der Größe eines Fernreise-Koffers dabei - "das Judentum in der Kiste", nennt sie das scherzhaft. Darin verstaut unter anderem: Challa, das Freitagsbrot, in Plastik eingeschweißt, samt dem Fransendeckchen, auf das es gelegt wird. Tefillin, die Gebetskapseln. Ein siebenarmiger Chanukka-Leuchter. Ein Kiddusch-Becher. Kippot, die Käppis für Männer. Das alles können die Jugendlichen anfassen, ausprobieren, und sie können nachfragen. Den Koffer könne sie übrigens auch bei älteren Menschen einsetzen, schiebt Haller nach, um "Vorurteile auszuräumen, Ängste zu brechen".
Sie wird 75. Zeit für den Ruhestand? Nein, ganz entschieden Nein
Dass dennoch Antisemitismus da ist, "überall auf der Straße", dass er sogar zunimmt, spüren natürlich auch Eva Haller und ihre Mitstreiter. "Es belastet, wenn Menschen erniedrigt oder beleidigt werden - egal ob jüdisch oder nicht", sagt Haller und setzt trocken hinzu: "Aber dass alles gelingt, ist wishful thinking."
Am 18. Juni wird Eva Haller 75 Jahre alt. Man sieht es ihr überhaupt nicht an, fragt aber doch vorsichtig: Denken Sie mal an Ruhestand? "Nein!" Ein ganz entschiedenes Nein. Erstens spüre sie ihr Alter gar nicht, sagt sie, "höchstens mal spät am Abend", wenn sie wie immer um sieben Uhr aufgestanden ist und bis 23 Uhr unterwegs war. Zweitens gehe es ihr wie jedem Menschen, der eine Lebensaufgabe hat: Es ist schwierig, einen Nachfolger, eine Nachfolgerin zu finden, der oder die das mit demselben Engagement und Herzblut weiterführt. Drittens: Sie muss ja ihr neues "Herzensprojekt" vorantreiben, nach dem langjährigen Fokus auf die Jugendarbeit nun auch ein jüdisches Erwachsenenbildungswerk für ganz Bayern aufzubauen. Und überhaupt: "Ich hab' noch genug Neugierde auf alles. Auf neue Erfahrungen. Auf Menschen."
Und auf die Reparatur der Welt. "Es gibt mehr als tausend Gründe täglich zu weinen. Wenn man zum Beispiel die Nachrichten sieht", sagt sie. "Aber weinen, das wird uns nicht weiterbringen." Lieber weiter kleine Schritte gehen. Um die Welt ein bisschen besser zu machen.