Bayerische Geschichte:Im Zenit der Macht

Lesezeit: 4 min

Herzog Tassilo III., wie er 700 Jahre nach seinem Tod in Schedels Weltchronik erscheint. (Foto: imago/piemags)

Die Synode von Neuching im Jahr 772 war ein Großereignis. Tassilo III. hatte alle, die in seinem Herzogtum etwas zu sagen hatten, hierher eingeladen, um an zeitgemäßen Gesetzen zu feilen und die Rolle des Staats zu stärken.

Von Florian Tempel, Neuching

Moosburg war im vergangenen Jahr dran, in Dorfen läuft das Festjahr und in Neuching holt man es wegen Corona-Implikationen gerade nach. Alle drei Orte feiern, dass sie vor 1250 Jahren erstmals erwähnt worden sind. Die Neuchinger aber dürfen auf den Beginn ihrer schriftlich fixierten Geschichte noch etwas stolzer als andere sein. Was da im Jahr 772 passierte, war ein historischer Paukenschlag. Auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte Tassilo III. jeden, der in seinem Herzogtum von Bedeutung war, zur Synode nach Neuching geladen. Es war eine Zusammenkunft, bei der Staatstragendes verhandelt und beschlossen wurde.

Man darf davon ausgehen, dass alle kamen, die etwas zu sagen hatten: die Bischöfe und Äbte, die Edlen und Wichtigen aus allen Landesteilen. Aus den alten Römerstädten Regensburg und Passau, aus den neu gegründeten Klöstern in Tirol oder an der Donau, und auch aus Kärnten, das Tassilo gerade erst in sein Herzogtum eingegliedert hatte. Christian Later, Archäologe am Landesamt für Denkmalpflege, geht davon aus, dass mehrere Hundert Menschen kamen, denn die zur Synode Gerufenen werden sicher mit ihren Gefolgsleuten, Dienern und Schreibern, Köchen und Pferdeknechten gekommen sein.

Irgendwo in Neuching müssen sie in einem großen Zeltlager campiert haben. Genaues weiß man aber nicht, räumt Later ein. Die Synode von Neuching ist zwar in alten Handschriften dokumentiert. Doch über das Drumherum steht da nichts. Und außer einem halben Dutzend frühmittelalterlicher Bestattungsplätze in Niederneuching gibt es in der Gemeinde keine archäologischen Funde aus dieser Zeit. Und doch: "Es muss einen großen, repräsentativen Versammlungsraum gegeben haben", sagt Later. Denkbar wäre auch, dass die Zusammenkunft "in einer Kirche stattgefunden hat - wenn die groß genug war".

Ein Rekonstruktionsvorschlag für den Altenerdinger Herrenhof mit doppelter Wallanlage. (Foto: Marc Miltz/oh)

Da erst vor wenigen Jahren ein Herzogshof in Altenerding gefunden wurde, ist es eher unwahrscheinlich, dass im nur wenige Kilometer entfernten Neuching ein weiterer herzoglicher Hof stand. Later tippt deshalb auf einen großen Adelshof. Wobei es im 8. Jahrhundert noch keinen wirklichen Adel gegeben habe, sagt er, "gesellschaftliche Elite trifft es besser". Ob das Versammlungsgebäude der Synode in Ober- oder Niederneuching stand oder irgendwo zwischendrin, muss offen bleiben, bis man eines Tages vielleicht doch noch "bauliche Infrastruktur" mit entsprechenden Dimensionen findet.

In jedem Fall sind die beiden Neuchinger Hauptorte alte Siedlungen und den Ortsnamen gibt es nicht noch einmal. Grundlegende Zweifel, dass die Synode nicht hier stattgefunden hätte, sind unnötig. Die Gegend war im Frühmittelalter "ein zentraler Raum in Bayern", sagt Later. Neuching liegt an einer alten Verbindung, die schon Kelten und Römer nutzten und welche die Orte am Rand des Erdinger Mooses wie an einer Perlenschnur aneinanderreiht: von Aschheim über Landsham, Kirchheim, Pliening, Gelting, Finsing, Ober- und Niederneuching, Moosinning, Notzing bis Ober- und Niederding. Sich hier mittendrin zu treffen, ist alles andere als abwegig.

Newsletter abonnieren
:SZ Gerne draußen!

Land und Leute rund um München erkunden: Jeden Donnerstag mit den besten Freizeittipps fürs Wochenende. Kostenlos anmelden.

Die Synode von Neuching war aber nicht nur quantitativ ein Großereignis, sondern auch inhaltlich ein besonderer Moment der bayerischen Geschichte. Im großen Kreis wurden hier neue Gesetze diskutiert und erlassen. Es waren Novellen und Ergänzungen zum erst 30 Jahre zuvor aufgeschriebenen Lex Baiuvariorum. Zugleich war es das letzte Mal für lange Zeit, dass sich Bayern eigene Gesetze gab. Nur 15 Jahre später schaltete Karl der Große seinen Vetter Tassilo mit einem Schauprozess aus, verbannte ihn ins Kloster und machte das bis dahin selbständige Herzogtum zu einem abhängigen Staat in seinem Frankenreich.

Thomas Holzner ist außerplanmäßiger Professor für öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Augsburg. Er hat seine Dissertation über die Decreta Tassilonis verfasst, die gesetzlichen Regelungen, die unter Tassilo III. bei der Synode Neuching und ähnlichen Zusammenkünften in Aschheim und Dingolfing erlassen wurden. In Neuching wurden 18 Artikel, sogenannte Canones verfasst, die ganz unterschiedliche Dinge behandeln. Auf den ersten Blick scheint es eine recht kuriose Sammlung zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung gewähren sie tiefe Einblicke in die damalige Gesellschaftsordnung.

Gesellschaftlicher Wandel macht - damals wie heute - Gesetzesnovellen notwendig

Das Stammesrecht der Bajuwaren war über Jahrhunderte mündlich tradiert worden, bevor es Mitte des 8. Jahrhunderts in Latein aufgeschrieben wurde. Mit der ersten schriftlichen Fixierung wurde jedoch auch klar, erklärt Holzner, dass man die Gesetze im Laufe der Zeit ändern, neu fassen oder ausarbeiten könnte. Die entscheidende Notwendigkeit dazu war damals, genau wie heute, der gesellschaftliche Wandel. Das lässt sich an Tassilos Synoden gut erkennen. In Aschheim 756 ging es um wichtige kirchliche Angelegenheiten. In Dingolfing, zwei Jahre vor Neuching, standen ausdifferenzierte Standesregeln im Mittelpunkt. Die Bajuwaren kannten zunächst nur drei soziale Stände: Freie, Unfreie und Freigelassene. Unter Tassilo bildeten sich Abstufungen heraus. Es entstand der Adel, aber auch eine Schicht hervorgehobener Unfreier in seinem Gefolge. Und wenn einer von diesen von Tassilo freigelassen wurde, sollte er besser gestellt sein als normale Leibeigene eines gewöhnlichen Mannes.

Diese Bestimmungen sind fein austariert, sagt Holzner, denn es ging um einen "Ausgleich von Interessen verschiedener Gesellschaftsschichten". Tassilo konnte in Neuching zwar als starker und gefestigter Herrscher agieren, musste jedoch auch vorsichtig beim Zugestehen von Privilegien sein, damit sich andere nicht zurückgesetzt fühlten. Auch weitere neue Regelungen, die in Neuching verabschiedet wurden, zeigen, dass es Tassilo vor allem darum ging, mehr staatliche Ordnung zu schaffen.

Es gibt zum Beispiel mehrere Canones, die das formale Vorgehen bei Hausdurchsuchungen genau festlegen. Wer sich dabei nicht an die Regeln hält, muss eine herbe Geldstrafe in die Staatskasse zahlen. Es gibt außerdem einen Strafenkatalog für Amtsvergehen und insbesondere bei der Bestechung von Richtern. Ein anderer Artikel sieht hohe Geldstrafen bei Hehlerei vor, die ebenfalls an den Staat geleistet werden müssen. Das alles ist bemerkenswert, weil das ursprüngliche bajuwarische Stammesrecht vor allem die Verhältnisse unter einzelnen Personen regelte. Als Sanktionen kannte es weder die Todesstrafe noch körperliche Züchtigungen oder Haftstrafen. Alles wurde über Geldzahlungen geregelt, privatrechtlicher Streit ebenso wie Straftaten. Und wer als Verurteilter nicht zahlen konnte, kam in Schuldknechtschaft.

Auch scheinbar kuriose Regelungen waren Modernisierungen urtümlichen Rechts

Auch drei scheinbar besonders kuriose Artikel sind bei genauem Hinsehen Modernisierungen urtümlichen Rechts. Zur Beweisführung in Gerichtsverhandlungen, wenn etwa Aussage gegen Aussage stand, musste ein Gottesurteil her. Typischerweise wurde dazu beim monatlichen Ding-Treffen der Bajuwaren ein Schwertkampf ausgefochten. Kläger und Beklagter mussten nicht selbst zur Waffe greifen, sondern durften sich von Lohnkämpfern vertreten lassen. Damit es noch mehr Chancengleichheit gab, wurden ihnen die Profi-Kämpfer erst kurz vor Kampfbeginn zugelost - und damit keine Zeit blieb, die Schwertkämpfer zu verhexen. Das alles wurde in Neuching genau geregelt, sagt Holzner, um die Akzeptanz des letztlichen Gottesurteils - der Sieger hatte Recht - für alle Seiten zu erhöhen. Die Gesetze dienten dem Rechtsfrieden.

Tassilo habe, gerade weil er im Zenit seiner Macht war, Gesetzesbedarf "zur Friedenssicherung und Festigung des Herzogtums" gesehen, sagt Holzner, und deshalb in Neuching die Rolle des Staates ausgebaut. Sein machthungriger Vetter Karl ließ seine Expansionsabsichten damals schon erkennen. 16 Jahre später schaltete er Tassilo aus und die Eigenständigkeit Bayerns war vorbei. Neuching gibt es noch immer und es feiert sich und Tassilo auch nach 1250 Jahren sehr zu Recht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Anfänge der Siedlung
:Erdings Wiege stand in Pretzen

Historischer Verein präsentiert neuen Forschungsstand: Der Ortsname geht auf das keltische "Bratan" zurück, eine Bezeichnung für einen Gerichtsstand. Er lag an einer alten Handelsstraße, die dann Teil einer Römerstraße wurde.

Von Thomas Daller

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: