SZ-Kulturpreis Tassilo:Nicht einschmeicheln, sondern anecken

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Leonhard F. Seidl vor der Thoreau-Hütte am Falkenstein im Nationalpark Bayerischer Wald im Juli 2022. (Foto: oh)

Die Bücher von Leonhard F. Seidl spielen dort, wo er aufgewachsen ist oder gerade lebt. Heimat ist bei ihm nicht Kulisse, sondern reale Gegend tatsächlicher Verbrechen und echter Schweinereien.

Von Florian Tempel, Isen

Heimatkrimis sind ein Renner. Eberhofer-Fans zum Beispiel halten, noch bevor sie richtig da sind, nördlich von Frontenhausen an Deutschlands berühmtestem Kreisverkehr an, um ein Selfie mit dem Pappkameraden-Abbild ihres Idols zu schießen. Dann geht es weiter in die reale Marktgemeinde, die ihnen das fiktive Niederkaltenkirchen ist, das sie aus den Verfilmungen der Bestseller von Rita Falk kennen. In Frontenhausen sind sie ziemlich stolz darauf, dass ihr Ort so bekannt und beliebt ist. Ein Flyer, den man sich im Rathaus holen kann, zeigt den Besuchern die wichtigsten Drehort-Sehenswürdigkeiten wie den Friedhof, die Eisdiele und das Wohnhaus von Susi in der Klostergasse. Der Heimatkrimi als Win-win-Projekt.

Bei Leonhard F. Seidl ist das etwas anders. Er hätte natürlich nichts dagegen, wenn seine Bücher so viel Auflage hätten wie die von Rita Falk. Doch mit Fan-Besuchen an den Schauplätzen seiner Bücher wäre eher nicht zu rechnen. Schon gar nicht damit, dass sie voller Stolz im Isener Rathaus einen Prospekt auflegen würden, der Seidl-Lesern stolz den Weg zum Haus des Protofaschisten Georg Escherich weist. Oder zu der Stelle am Schinderbach, wo der antidemokratische Isener Forstrat vor hundert Jahren mit dem rechtsextremen Philosophen Oswald Spengler angeln ging. Oder in den nahen Wald, wo sie auf der Jagd waren. Die Bücher von Leonhard F. Seidl, in denen so was vorkommt, sind zwar auch heimatliche Krimis, aber doch so ganz anders als gewöhnlich. Sie schmeicheln sich nicht in ihre Schauplätze ein, sondern ecken unangenehm an. Seidl mischt sich ein und stellt die Frage, ob in seinem Heimatort eine Straße nach einem Rechtsextremen benannt sein sollte. Das nervt - richtigerweise.

Tassilo 2023
:Berührend. Begeisternd. Bereichernd

Die Süddeutsche Zeitung verleiht zum zwölften Mal den Tassilo-Kulturpreis, um Kulturschaffende in der Region rund um München für ihr Können und ihr Engagement auszuzeichnen. In den kommenden Wochen werden die Kandidatinnen und Kandidaten vorgestellt.

Von Karin Kampwerth

Leonhard F. Seidl ist 1976 in München auf die Welt gekommen, in Isen aufgewachsen und im selbstverwalteten Dorfener Jugendzentrum sozialisiert worden. Er war Punk, ist ausgebildeter Krankenpfleger und hat Soziale Arbeit studiert. Er lebt seit langem nicht mehr im Isental, sondern in Franken. Die Orte, an denen er als Kind und Jugendlicher war und in die er immer wieder und gerne zurückkommt, sind ihm wichtig und Inspiration. Das gilt für seine Krimis "Genagelt" (Emons Verlag, 2014) und "Viecher" (Emons Verlag, 2015) genauso wie für sein Buch "Fronten" (Edition Nautilus, 2017), das den Amoklauf in Dorfen 1988 und das Reichsbürger-Phänomen thematisiert. Die Gegend im östlichen Landkreis Erding ist ihm nicht heimatliche Kulisse oder Referenzraum für regionale Atmosphäre, sondern reale Gegend tatsächlicher Verbrechen und echter Schweinereien gegen Mensch, Tier und Landschaft.

Aktuell konzentriert sich Leonhard F. Seidl - etwas weg von zeitgeschichtlicher, engagierter Literatur - auf Nature Writing. Er hat bei Stipendienaufenthalten in den Bergen und in Kleinstädten den Fokus auf naturnahe Textproduktion gelegt. Das ist keine kleine oder große Flucht, sondern ein neuer Aspekt eines an Orten und Regionen interessierten Schriftstellers, der für den SZ-Kulturpreis Tassilo nominiert ist.

Im vergangenen Jahr hat er zwei Bücher herausgebracht. "Vom Untergang" (Edition Nautilus) ist sein sechster Roman, ein historischer Krimi über einen politischen Mord an einem jungen Sozialdemokraten in Fürth im Jahr 1922 und parallel dazu die rechtsextremen Umsturzpläne, die Oswald Spengler mit dem Isener Forstrat Georg Escherich plant. Außerdem hat Seidl die autobiografischen Schriften des Fürther Anarchisten Fritz Oerter unter dem Titel "Lebenslinien" (Verbrecher Verlag) herausgebracht, der ebenfalls eine wichtige Rolle in seinem neuen Roman spielt. Seidl interessiert sich, wie schon gesagt, intensiv für die Orte, in denen er lebt. Das bewies er auch mit seinem Schelmenroman "Der falsche Schah" (Volk Verlag, 2020) über den Besuch des persischen Herrschers im Jahr 1968 in Rothenburg ob der Tauber, den er dort während eines Literaturstipendiums geschrieben hat.

Nicht genau zu verorten ist Seidls starker Debütroman "Mutterkorn" (Verlag Kulturmaschinen), der im vergangenen Jahr eine zweite Auflage bekam. Er spielt irgendwo in der Region rund um München. Es ist die Geschichte eines jungen Punks, der an den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen verzweifelt, zu viel Drogen nimmt und mit einem Schicksalsschlag zu kämpfen hat. Es geht um die katastrophalen Zustände in der Pflege, um Neonazis, die einen Anschlag in München planen, und die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Zehn Jahre, nachdem der Roman erschienen ist, ist er immer noch aktuell.

Bis Mitte Februar stellt die SZ Kandidatinnen und Kandidaten für den Tassilo-Kulturpreis 2023 vor. Alle Nominierten finden sich unter sz.de/tassilo .

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