Zwischen Welten:Da geht etwas verloren

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Ihre Tochter und viele andere geflüchtete ukrainische Kinder tauchen immer tiefer ins deutsche Leben und die Sprache ein, beobachtet unsere Kolumnistin. Auf Kosten der eigenen Kultur?

Von Emiliia Dieniezhna

"Wahnsinn, dass wir bald deinen Geburtstag schon zum zweiten Mal feiern", sagte meine Nachbarin neulich zu mir auf dem Weg zur Arbeit. Ich hatte großes Glück mit der Unterkunft hier, auch mit den Nachbarn, und im vergangenen Jahr haben wir am 21. Juni eine Geburtstagsparty organisiert. Große Lust, während des Krieges in meinem Land zu feiern, hatte ich nicht. Aber trotzdem entschied ich mich, uns ein Stück Normalität zu schenken. Damals hofften alle, die zur Party kamen, dass ich beim nächsten Geburtstag wieder zu Hause in Kiew wäre.

Aber ich bin immer noch in Pullach, und auf den Tisch stelle ich bayerische Würstchen zusammen mit den ukrainischen Salaten. Wahnsinn ist eigentlich das Wort, das genau erklärt, was ich fühle. Wahnsinn, wie lange es schon dauert. So viele Menschen meines Landes verteidigen die Ukraine an der Front, viele sterben, und ich habe jeden Tag ein Schuldgefühl, weil ich in Sicherheit bin. Wahnsinn, dass ich schon seit 17 Monaten eine Geflüchtete bin. Wahrscheinlich wirke ich nicht wie das Klischee einer Geflüchteten, weil ich drei Universitätsabschlüsse habe und drei Fremdsprachen kann - aber es ist so. Der Krieg wählt nicht, wen er zur Flucht zwingt. Alle sind gleich vor der Gefahr.

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Wahnsinn, dass ich diese Kolumne schon mehr als ein Jahr schreibe. Es wird immer schwieriger, jedes Mal interessante Themen vorzuschlagen, aber ich hoffe, dass meine Texte trotzdem nicht langweilig sind. Wahnsinn, dass meine Tochter schon viel besser Deutsch spricht als ich. Sie wird im Herbst in der Grundschule anfangen, und ich mache mir keine Sorgen, dass sie sprachliche Schwierigkeiten haben wird. Sie mag es, wenn ich auf Deutsch vorlese und hat immer weniger Lust aufs Ukrainische. Sie sagt oft: "Mama, ich habe Ukrainisch vergessen". Und das nur nach 17 Monaten in Deutschland.

Was kommt als nächstes? Vor Kurzem habe ich einen Post in den sozialen Medien gesehen: Eine geflüchtete Frau schrieb, dass Millionen ukrainischer Kinder jetzt verschiedene europäische Sprachen lernen und dass das gut ist, weil später alle diese Kinder die europäische Zukunft in der Ukraine bauen können. Es gab einen Kommentar zu diesem Posting, dass diese Kinder wahrscheinlich keine ukrainischen Kinder mehr seien, weil sie die Kultur der anderen Länder verinnerlichten.

Das sehe (und fürchte) ich großteils genauso. Es ist genau das, was ich immer mehr in meinem Leben bemerke. Mein Alltag wird dem Alltag von vielen Deutschen immer ähnlicher. Arbeit, Schule, Nachmittagsbetreuung, Freizeitaktivitäten für das Kind, Freunde in Deutschland. Immer weniger Platz bleibt in meinem Tagesplan für Aktivitäten, die für die Ukraine relevant sind. Immer weniger Ukrainisch und ukrainische Kultur gibt es im Tagesplan meiner Tochter. Das macht mir das Herz schwer. Obwohl ich München und Deutschland sehr mag, möchte ich meinen nächsten Geburtstag unbedingt in der Heimat feiern, in meinem friedlichen Kiew. Ich möchte mein Leben zurück, so bald wie möglich.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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