Die Sprengung des Kachowka-Staudamms vorige Woche hat alle Ukrainer, egal ob wir in der Heimat oder gerade im Exil leben, geschockt. Tag und Nacht waren wir in den Sozialen Medien unterwegs, um das Ausmaß der Katastrophe zu bewerten und - wenn möglich - den Opfern zu helfen.
Die Bilder der Tragödie und die Screenshots aus den lokalen Gruppen, in denen die Ukrainer ihre Verwandten im Katastrophengebiet suchten, werden sich wohl auf Lebenszeit in meinem Gedächtnis einprägen. Zwei Schicksale haben mich besonders getroffen. Ein Video zeigt eine Mama von zwei Kindern, die versucht, durch ein Dachfenster eine kleine Flasche Wasser aus einer Flugdrohne zu erreichen. Die Flasche ist für ihre Familie eine Chance zu überleben. In einem anderen Video erzählt eine Mutter, wie sie und ihre Kinder sich vor den Wassermassen auf einen Dachboden retten konnten. Von dort aber mussten sie zuhören, wie ihre älteren Nachbarn zuerst um Hilfe flehten und dann verzweifelt geschrien haben - und kurz darauf qualvoll ertranken. Sie waren zu alt, um auf den Dachboden zu klettern.
Viele Tage war ich in großer Sorge um die Familie einer Kollegin. Sie hatte weder zu ihrem Onkel noch zu ihrer Oma Kontakt. Nach fünf Tagen haben wir endlich erfahren, dass die Familie lebt. Sie konnte sich ebenfalls unter dem Dach ihres Hauses in der von Russland besetzten Zone in Sicherheit bringen. Ein Nachbar hatte sich durch die Fluten gekämpft, um nach ihr zu sehen. Ob sie von dort aber gerettet werden, ist unklar. Laut ukrainischer Regierung machten die Russen jedenfalls keine Anstalten. Stattdessen würden sie Zivilisten, Rettungskräfte und ehrenamtliche Helfer beschießen
Ich weiß von niemandem, der unberührt von dieser Tragödie geblieben ist. Ich kenne selber drei Personen, die mit ihren Autos direkt ins Katastrophengebiet gefahren sind, um unter Lebensgefahr Menschen zu retten. Alle meine Freunde spenden nun für Schlauchboote, Rettungsausrüstung und Trinkwasser. Online helfen viele meiner Bekannten, die in der Ukraine geblieben sind, bei der Koordinierung der Einsätze.
Meine Landsleute hier in Bayern versuchen, ein anderes Thema dazu öffentlich noch bekannter zu machen. Denn für uns ist unabhängig von jeder Suche nach den unmittelbar Schuldigen glasklar, wer diese Katastrophe zu verantworten hat: Russland. Denn gäbe es keinen Krieg gegen mein Land, wäre der Staudamm auch nicht gesprengt worden.
Um das den Menschen zu vermitteln, haben meine Freunde Kateryna Plaksiy und Dmytro Pyvovarov in Nürnberg eine Versammlung mit etwa 500 Teilnehmern organisiert. Viele von ihnen haben Familie und Freunde im Gebiet rund um Cherson und wollten deren Geschichten auf der Bühne erzählen - aus Angst vor den Russen aber oft anonym.
Eine Frau aus Oleschky bei Cherson berichtete, dass in ihrer Heimatstadt sehr viele Menschen, meist ältere, und Tiere gestorben sind und jetzt die Kadaver im Wasser schwämmen. Sie hat auch erzählt, dass die Besatzer versprechen würden, alle auf der Krim in Sicherheit zu bringen, wenn sie einen russischen Ausweis annehmen. Viele, darunter auch Senioren, würden aber verzichten und lieber im Überschwemmungsgebiet bleiben.
Mit jeder neuen Geschichte, die ich hörte, habe ich das Gefühl, dass ich an die Grenze des Erträglichen komme, oder wie wir Ukrainer sagen: Der Becher meines Leidens fließt über. Ich hoffe deshalb von Herzen, dass sich alle immer daran erinnern, wer Schuld an diesem Grauen trägt. Die Ukraine ist es nicht.
Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.