Zwischen Welten:Vom Luxus der Banalität

Lesezeit: 2 min

Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Unsere Kolumnistin hat eine gänzlich unperfekte Schultüte für ihre Tochter gebastelt. Dass sie mit ihrem Mann darüber scherzen kann, macht sie nachdenklich.

Von Emiliia Dieniezhna

Es gibt kaum ein Erlebnis, auf das ich mehr gewartet habe als auf das Ende des Krieges: die Einschulung meiner Tochter Ewa. Am Dienstag war es so weit. Natürlich hat sich unsere Familie darauf vorbereitet, denn der erste Schultag ist hier ein genauso wichtiges Ereignis wie in meiner Heimat.

In der Ukraine beginnt die Schule immer am 1. September. Ich habe zur Feier des Tages jedes Mal ein schwarz-weißes Kleid getragen, dazu zwei große weiße Haarschleifen. Inzwischen wäre das unmöglich, weil diese Kleidung nicht nur die kriegerische, sondern auch die kulturelle sowjetische Besatzung von damals symbolisiert. Längst also tragen ukrainische Kinder unsere nationale Tracht Vyschyvanka.

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Meine Tochter wird ein schönes Kleid anziehen, denn ihr erster Schultag ist hier in Deutschland. Natürlich hat sie auch eine Schultüte. Die mussten wir unbedingt selber basteln, das haben uns deutsche Freunde klargemacht. Viele machen das in den Kindergärten. Leider gab es ein solches Angebot in Ewas Kindergarten nicht, weshalb wir selber ran mussten. Ich kann hier schon verraten: Ganz leicht haben wir uns damit nicht getan, weil es in meiner Heimat diese Tradition nicht gibt.

Den Tüten-Zuschnitt habe ich online bestellt und danach zusammengeklebt. Meine Tochter hat mir geholfen, eine schöne Meerjungfrau auf die Tüte zu kleben. Mein Mann hat die Flosse gebastelt und aufgeklebt. Dabei hat er allerdings festgestellt, dass ich den Zuschnitt falsch verklebt hatte. Die Not war also groß, denn eine neue Schultüte wollten wir auch nicht basteln, weil wir in diese schon so viel Arbeit und Zeit gesteckt hatten.

Die Schultüte von Emiliia Dieniezhnas Tochter ist vielleicht nicht perfekt, aber dafür sehr schön mit einer Meerjungfrau beklebt. (Foto: Emiliia Dieniezhna/oh)

Natürlich wäre es einfacher, eine fertige Schultüte zu kaufen. Aber ich bin inzwischen sehr froh, dass meine Tochter mit einer nicht ganz perfekten Tüte in die Schule geht. Mein Mann scherzt, dass Schultüten ohnehin nur dann professionell aussehen könnten, wenn die Eltern des Schulkindes Lehrer oder Ingenieure sind.

Dass wir über so lustige Dinge wie die Qualität einer Schultüte sprechen konnten, empfinde ich als echten Luxus. Meine Tochter kommt in die Schule in einem Land, in dem es keinen Krieg gibt, in dem Bildung und Sozialisierung garantiert sind. Das kann man nicht hoch genug schätzen. Doch gerade deshalb kann ich nicht ignorieren, welchen Schulbeginn die Kinder in meiner Heimat hatten.

Ich leide, weil es während des Unterrichts dort immer wieder Luftalarm gibt. Ich leide, weil viele Kinder gar nicht die Möglichkeit haben, die Schule zu besuchen, weil die Schulen - wie gerade in Odessa - keine Bunker haben, in denen sich Lehrer und Kinder in Sicherheit bringen können. Ich leide, weil viele Kinder Online-Unterricht haben, was Bildung und Sozialisierung schadet. Ich leide, weil die Kinder in meiner Heimatstadt im Donbass in die besetzte russische Schule gehen und Russisch als Muttersprache lernen müssen.

Ich weiß, dass ich persönlich wenig gegen all diese Ungerechtigkeiten ausrichten kann. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen diesen Krieg nicht vergessen, auch wenn er manchmal sehr weit weg erscheint.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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