Zwischen Welten:Altes Leben, neues Leben

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Unsere Kolumnistin trifft eine ukrainische Psychologin, die erklärt, was Geflüchteten hilft, sich in der neuen Gesellschaft zu integrieren.

Kolumne von Emiliia Dieniezhna

In diesen anstrengenden Zeiten versuche ich, am Wochenende oder in den Ferien ein bisschen mit meiner Tochter zu reisen. Am Wochenende haben wir meine Freundin in Wien besucht. Sie ist Österreicherin, hat früher mal in der Ukraine gearbeitet und wohnt jetzt wieder in ihrem Heimatland. Sie wiederzusehen, war aufregend. Fast wie ein Stück Normalität, das mir die Kraft gibt, weiter durchzuhalten.

Die Reise nach Wien habe ich auch genutzt, um die Psychotherapeutin Nataliya Tereschenko zu treffen. Sie stammt aus der Ukraine, hat in Österreich studiert und betreibt inzwischen eine eigene Praxis. Als Ukrainerin, die lange im Ausland gelebt hat, besitzt sie eine besondere Expertise für Migrationsfragen und konsultiert dafür ukrainische Geflüchtete in Österreich und in Europa. Ich war sehr interessiert daran, mit ihr über die Erfahrungen und Gefühle meiner Landsleute zu sprechen.

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Jeden Tag kommen viele Ukrainer in ihre Praxis. Obwohl das Leben in Österreich und Deutschland für ukrainische Geflüchtete sicher sei, sei es nicht einfach. Gesellschaft und Kommunikation in der Ukraine und im deutschsprachigen Raum seien sehr verschieden, das erschwert eine geplante Migration, gar nicht zu reden von der Flucht, erklärt Nataliya.

Die neue Kultur zu adaptieren, sei nicht einfach, weil die Menschen nicht nach ihren Traumata gefragt werden. In der deutschsprachigen Kultur sei das ein Zeichen von Respekt. In der Ukraine hingegen fragt man nach, wie es einer Person geht, die Schlimmes erlebt hat. Das kann Missverständnisse heraufbeschwören.

Einen weiteren Unterschied gibt es bei bürokratischen Fragen. In der Ukraine kann vieles am Telefon oder im Internet gelöst werden, weil das Land bereits sehr digitalisiert ist. Hier werden Mails oder Briefe geschrieben. Diese starren Strukturen sind für uns oft nur schwer zu verstehen.

Die Geflüchteten müssen noch einmal erwachsen werden, sich sozialisieren und ihr Leben organisieren

Weil die Ukraine jünger als die meisten Staaten der EU ist, können wir uns zudem weniger auf den Staat verlassen und müssen mehr Verantwortung übernehmen. In Deutschland übernimmt der Staat mehr Verantwortung. Das sind Gründe, warum unsere Zugänge so verschieden sind.

Dazu hat auch die Flucht das Leben der Ukrainer auf null gesetzt, erklärt Nataliya. Psychologisch würden die Menschen auf das Niveau ihrer Kindheit sinken. Man müsse noch einmal erwachsen werden, sich sozialisieren, sein Leben organisieren. Viele verlören ihren sozialen Status. Also wer reich war, sinkt auf Mittelklasse-Niveau oder wird sogar arm. Viele Geflüchtete aus der Ukraine sind sehr gut ausgebildet, ein Verlust des sozialen Status macht das Leben nicht einfacher.

Besonders für die Jugendlichen sei das schwierig und schmerzhaft. Gelten sie in der Ukraine noch als begabt und intelligent, können Kinder und Jugendliche sich hier nicht verwirklichen. Dadurch könne ihre Entwicklung über Jahre stagnieren, sagt Nataliya.

Für mich als Lehrerin, die viele ukrainische Kinder unterrichtet, war wichtig zu hören, was Nataliya den Eltern und den Schulen empfiehlt, um die geflüchteten Kinder zu unterstützen. Sie sagt, es sei wichtig, die individuellen Bedürfnisse der Kinder zu stillen, etwa mit Sport, Kunst oder Freizeitaktivitäten am Nachmittag, um Struktur in den Alltag zu bringen. Eine gute Idee ist es, den Kindern zu helfen, Kontakte mit heimischen Kindern und Jugendlichen zu pflegen. Das können Verabredungen zum Spielen oder für andere Aktivitäten sein. Aber manchmal braucht es auch eine Psychotherapie.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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