Zwischen Welten:Der Eiskugel-Index

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Unsere Kolumnistin wundert sich nicht nur über Schlangen vor Eisdielen, sondern auch darüber, was eine Kugel kostet. Ein Vergleich mit den Preisen in der Ukraine überrascht dann aber doch.

Von Emiliia Dieniezhna

Eine der ungewöhnlichsten Dinge, die ich in Bayern in den ersten Monaten nach meiner Flucht gesehen habe, ist die lange Schlange vor der Eisdiele. Sobald die Sonne hinter den Wolken hervorlugt, laufen alle Pullacher zur Eisdiele. Zumindest sieht es so aus. Kleine Kinder, Erwachsene, Senioren und Seniorinnen, alle stehen gemeinsam an. Um eine Kugel Eis in der Sonne zu genießen, ist man bereit, lange zu warten.

Um an so ein köstliches Eis zu kommen, sind die Pullacher, und nicht nur die, bereit, lange zu warten. (Foto: lenawurm via www.imago-images.de/imago images/Shotshop)

Das Eis schmeckt natürlich köstlich, und die Auswahl ist zweifelsfrei groß. Aber warum soll ich auf diese eine Kugel so lange warten? Das leuchtete mir anfangs nicht wirklich ein. In der Ukraine habe ich eine solche Schlange nie gesehen. Denn wenn man so viele Kunden hätte, würde man entweder mehr Personal einstellen - oder gleich eine zweite Eisdiele eröffnen. Auf keinen Fall aber würde man Kunden warten lassen wollen. Die Ukraine ist ein Land, in dem die Unternehmen flexibel auf Nachfrage reagieren.

In den ersten Monaten habe ich natürlich hier viel mit unserem ukrainischen Alltag verglichen. Mit der Zeit aber habe ich mich an allerlei gewöhnt - und bemerkt, dass eine Schlange vor einer Eisdiele kein Pullacher Phänomen ist. Auch in München stehen die Menschen Schlange für ein Eis, und niemand stört sich daran. Anfangs habe ich sogar vermutet, dass das Schlangestehen eine Art lokale Tradition ist - genauso wie das Schlangestehen in Berlin, wenn man einen der dort angesagten Clubs besuchen will. In der Hauptstadt gehöre das auf jeden Fall zum Lebensgefühl dazu, hat mir ein Bekannter erklärt. Deshalb habe ich beschlossen, die Schlange zur Eisdiele zu genießen, als Akt der Vorfreude sozusagen.

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Inzwischen habe ich festgestellt, dass Schlangestehen gar nicht so schwierig ist. Wenn man in so einer kleinen Gemeinde wie Pullach wohnt, trifft man oft Bekannte in diesem Menschenwurm. Meine Tochter Ewa kennt viele Kinder aus dem Kindergarten oder der Schule und trifft oft jemanden, mit dem sie spielen kann, solange wir warten. Also, die Eis-Integration hat schon geklappt.

Woran ich mich bis gestern nicht gewöhnen konnte, ist der Preis für das Eis. Eine Kugel hat etwa 1,50 Euro gekostet, als wir aus der Ukraine kamen. Inzwischen kostet sie 1,80 Euro. Anfangs habe ich den Preis noch in die ukrainische Währung umgerechnet und fand das Eis wirklich teuer, etwa zweimal teurer als in meiner Heimat. Für diese Kolumne wollte ich überprüfen, wie viel die Kugel inzwischen in der Ukraine kostet. Das Ergebnis hat mich überrascht.

Mit meiner ukrainischen Freundin Natalia habe ich den Test gemacht. Wir haben getippt, dass eine Kugel Eis in Kiew zwischen 70 Cent und 1,10 Euro kostet. Eine Freundin hat das vor Ort überprüft - und 1,50 Euro bezahlt. Das war für uns wirklich kaum zu glauben, dass eine Kugel Eis jetzt in Kiew fast genauso viel kostet wie in München. Das Eis wird doch in der Ukraine produziert.

Ich habe von meinen Freunden in der Heimat allerdings auch gehört, dass alle Lebensmittel seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges extrem teuer geworden sind, manchmal sind die Preise sogar auf das Doppelte gestiegen. Die Eiskugel ist nur ein Beispiel. Ich verstehe, dass der Krieg die Wirtschaft der Ukraine beeinflusst und die Preise ohne internationale Hilfe vermutlich auf das Drei- oder Vierfache gestiegen wären. Ich bin sehr dankbar, dass auch das deutsche Volk dafür sorgt, dass nicht nur eine Kugel Eis in der Ukraine einigermaßen bezahlbar bleibt.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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