Vor Kurzem schrieb mir meine Freundin Olha in den Sozialen Medien: "Emiliia, ich bin zu Hause, in Kiew. Es ist so schön hier, alles ist heimisch: meine Stadt, meine Wohnung, meine Sprache. Es ist auch so ruhig hier, als ob es keinen Krieg gäbe. Ich möchte nicht zurück nach Deutschland. Ich möchte hier für immer bleiben."
Ich kenne Olha seit unserer gemeinsamen Uni-Zeit. Sie ist wie ich vor dem Krieg geflüchtet und wohnt mit ihrer Tochter und ihren betagten Eltern seit etwa einem Jahr in einer kleinen Stadt in Bayern. Dort unterrichtet sie Englisch und Deutsch für ukrainische Schülerinnen und Schüler. Nun ist sie das erste Mal seit Kriegsbeginn zurück in die Ukraine gereist.
Mich hat ziemlich überrascht, dass es in Kiew so ruhig sein soll, das hatte ich nicht erwartet. Andere Bekannte, mit denen ich regelmäßig spreche, und nicht zuletzt auch mein Mann berichten eigentlich immer, wie stressig es ist, ständig die Sirenen oder auch die Luft-Abwehrsysteme zu hören. Meistens natürlich nachts, was den Menschen den Schlaf raubt. Ruhe und Kiew, das passt irgendwie nicht zusammen.
Und so war es auch für meine Freundin nur eine Wunschvorstellung, die schnell von der Realität eingeholt wurde. Schon ein paar Stunden nach ihrer ersten Nachricht schrieb Olha, dass sie Explosionen ganz in der Nähe hört und diese genauso laut seien wie in den ersten Tagen des russischen Angriffs auf mein Land. Meiner Freundin kamen schnell Zweifel, ob es eine gute Idee ist, mit Kind in Kiew zu bleiben.
Olha ist eine von vielen Geflüchteten in Deutschland, die in den Ferien nach Hause gefahren sind. Auch in der Brückenklasse, die ich unterrichte, gibt es eine ganze Reihe von Kindern, die in den Ferien in die Ukraine fahren, weil sie ihre Väter so vermissen, genau wie die Mütter ihre Männer vermissen. Dafür nehmen sie in Kauf, zwei oder drei Tage unterwegs zu sein, um dann eine Woche oder zehn Tage in der Heimat zu verbringen. Ganz zu schweigen vom Risiko, doch irgendwo in einen russischen Angriff zu geraten.
Die Angst der Mütter: Entfremden sich die Kinder von ihren Vätern, wenn sie sie so selten sehen?
Ferien in der Ukraine? Ob das so richtig ist, darüber wird auch in den Sozialen Medien diskutiert. Es geht vor allem um die Sorge, dass sich die Kinder von ihren Vätern entfremden, wenn sie sie nur ein oder zwei Mal im Jahr sehen. In der Zwischenzeit werden die Kinder größer, ihre Interessen und Prioritäten wechseln oft und sie lernen eine Sprache, die die Väter nicht verstehen. Hier könnte sich eine weitere Tragödie für die Familien entwickeln, die durch den Krieg getrennt wurden.
Für jede Mutter ist es zweifelsohne eine schwere Entscheidung, ob sie mit ihren Kindern in den Ferien in die Heimat fährt oder nicht. Ich selber habe mich bislang dagegen entschieden. Ich möchte meine Tochter vor der Erfahrung, die meine Freundin Olha jetzt in Kiew macht, schützen. Ob es richtig ist, weiß ich nicht, aber es gibt wahrscheinlich keine richtigen Entscheidungen in solchen Situationen.
Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.