Manchmal ist es ja offensichtlich, dass etwas in die sprichwörtlichen Geschichtsbücher eingeht: WM-Sieg der Fußballer in Rio 2014, Mauerfall - solche Kaliber. Was aber, wenn der Alltag auf einmal historisch ist, wie während der Corona-Pandemie? Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass sich in ein paar Jahren oder Jahrzehnten, wenn diese Pandemie blasse Erinnerung ist, Ausstellungen auf diese Zeit zurückblicken.
Zum Beispiel daran erinnern, wie eine kilometerlange Schlange stundenlang auf dem Ebersberger Volksfestplatz ausharrte, für eine Impfung. Oder daran, wie allüberall die Nähmaschinen entstaubt und Alltagsmasken geschneidert wurden. Nur wird es dann auch Objekte geben, wie ein Stück Berliner Mauer, an dem sich Geschichte erklären lässt? Damit die Museen im Ebersberger Landkreis eines Tages nicht ohne Exponate dastehen, haben die Archivare bereits mit dem Sammeln begonnen. Schließlich ist, was derzeit alltäglich scheint, "Zeitgeschichte", wie Antje Berberich vom Stadtarchiv Ebersberg sagt.
Deswegen sammelt Berberich vom ersten Tag an "alles, was ich entdecken kann." Masken, Desinfektionsmittel mit Anwendungstipps, Konzertabsagen und -umzüge ins Netz. Um die 100 Objekte hat sie inzwischen beinander. "Vielleicht auch mehr. Die Fotos muss ich noch auswerten." Sie habe viel fotografiert, Schilder mit Abstandshinweisen oder Wegweiser für das Impfzentrum in Ebersberg. "Das Impfzentrumsschild kann ich ja nicht abmontieren", sagt sie.
Es klingt aber ein bisschen so, als ob sie sich das schon mal überlegt hat. Auch bei der Ebersberger Impfaktion vor wenigen Wochen ist sie als Historikerin gewesen, gegen 10 Uhr sei sie durch die Wartenden gegangen, habe fotografiert und gezählt: 695 Personen seien es in der einen Kilometer langen Schlange gewesen. Historisch. Und Corona ist ja noch nicht vorbei. Berberich legt alles im Archiv ab. "Unter 'Covid' in einer Mappe."
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Die Ortshistoriker sind unterdessen nicht die einzigen, die fleißig in die Archive einlagern. Das Münchner Stadtmuseum hatte schon vergangenen Mai dazu aufgerufen, Fotos, Videos und Tagebücher einzuschicken. Gesucht seien Dinge, "die die Veränderung abbilden", so das Museum damals. Das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt stellte bis Mitte Mai selbstgeschneiderte Alltagsmasken aus den ersten Coronamonaten aus. Die Masken hatten Ingolstädter zuvor in eine "Maskentonne" neben dem Rathaus geworfen.
Diese individuellen Masken findet auch Bernhard Schäfer spannend. Spannender jedenfalls als die in Massen produzierten OP- und FFP2-Masken. "Der Bezug zum Ort und der Region ist schon wichtig." Zum Beispiel die Mund-Nasen-Masken mit Grafinger Wappenbär, die von der Stadt an ihre Mitarbeiter verteilt wurden. Schäfer nehme solche Objekte in den Bestand des Museums auf. "Aber ich sammle nicht gezielt und konsequent." Ein bisschen was ist allerdings schon zusammengekommen, per "Zufallsgenerator", wie er sagt: Hinweisschilder, die er auf- und abhängte als sich die Corona-Regeln mal wieder änderten. Oder ein Blättchen mit einem "Corona-Gebet" drauf. Und natürlich eine Flut an Zeitungsartikel, die er in einem Ordner sammelt.
Wobei sich Schäfer nicht ganz sicher ist, ob die Pandemie in ein paar Jahren wirklich noch jemanden interessiert. Momentan wirke Corona "riesenhaft, weil alle Lebensbereiche betroffen sind." Das wolle er nicht kleinreden, "dramatisch" seien die Auswirkungen bisweilen auf die Menschen, die Wirtschaft und den Alltag. Aber er habe das Gefühl, dass "Corona in 100 Jahren genauso bewusst und bekannt sein wird wie es die Spanische Grippe vor zwei Jahren war."
Soll heißen: mehr oder weniger vergessen. Tatsächlich fand 2018, als sich der Ausbruch der damaligen Pandemie zum 100. Mal jährte, dieses Jubiläum kaum Aufmerksamkeit. Man blickte stattdessen auf das Ende des Ersten Weltkrieges zurück. Und ein Jahr später erinnerte man sich gerade in Bayern stärker an den Versuch, eine sozialistische Räterepublik aufzubauen - und weniger an die immer noch wütende Spanische Grippe. Ähnliches erwartet Schäfer auch für die Covid-Pandemie. Denn irgendwann werde sie vorbei sein, und andere Themen drängen wieder in den Vordergrund: Klimawandel, politische Entwicklungen.
Eine Ausstellung, die sich ausschließlich mit der Pandemie im Landkreis auseinandersetzt, "ist für mich zu sehr auf eine Sache eingeengt." Aber wer weiß, eine Ausstellung, die sich mit "Seuchen im Landkreis Ebersberg" über mehrere Jahrhunderte beschäftigt. Das könnte schon wieder spannend sein, findet Schäfer.
Er erwartet ohnehin, dass sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch viele mögliche Corona-Sammlungsstücke auftun. Es sei oft so, dass Leute das Haus oder die Wohnung eines verstorbenen Familienmitglieds ausräumen. "Und die sagen dann zu mir: Da ist noch was aus der Zeit da, wäre das nicht interessant?" Aber das werde wohl eher sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin aufarbeiten.
Zur Corona-Pandemie gehört es ja ohnehin das sich ein wesentliches Objekt nicht ohne weiteres sammeln lässt. Auch im Ebersberger Archiv von Antje Berberich liegt es nicht: "Das kleine Virus habe ich noch nicht", sagt Berberich. Zum Glück. Das braucht schließlich wirklich keiner. Weder in einer Mappe, noch im Körper.