Polizeieinsatz gegen Flüchtlinge:Dachau gut austariert

Lesezeit: 4 min

Die Landes-CSU preist die Stadt als Lernort des 20. Jahrhunderts, die Polizei tastet deshalb demonstrierende Flüchtlinge nicht an. Aber nach der Landkreisgrenze schlägt sie sofort zu - mit Billigung eben dieser CSU.

Von Helmut Zeller

Das Bundesverdienstkreuz prangt am Mantel von Rose Kraus. Sie hat es für ihre Verdienste um Asylsuchende bekommen. Am Montag stellte sie sich schützend vor die Flüchtlinge, die auf ihrem Protestmarsch nach München an der Landkreisgrenze von Münchner Polizei gestoppt wurden. (Foto: Toni Heigl)

Warum nur, fragt der 27-jährige Asylsuchende aus Afghanistan, warum kann ich nicht hierbleiben? Ali K. ( Name geändert) war 14 Jahre alt, als die Taliban sein Dorf bei Mazar-i Scharif überfielen und 72 Menschen ermordeten. Sein Vater und seine Mutter starben, sein Bruder ist verschollen. Ali K. entkam. Seine Wunden an Armen und Kopf sind längst vernarbt, aber auf der Flucht ist er noch immer. Acht Jahre lang wanderte er durch halb Europa, schlief unter Brücken, und erreichte schließlich Deutschland. Dorthin musst du gehen, hatten Flüchtlinge in Rom gesagt, Deutschland ist eine große Demokratie. Diese Geschichte erzählt Ali K. am Montag der Dachauer Stadtjugendpflegerin Christine Wörthmann im Jugendzentrum "Freiraum", in dem die 35 Asylsuchenden mit Unterstützern aus der "Refugee Struggle for Freedom" übernachtet haben.

Die Antwort auf seine Frage bekommt Ali K. wenig später: Hinter Karlsfeld kesseln um 17 Uhr USK-Beamte den Protestzug der Asylsuchenden nach München auf der Brücke über die A 99 ein. Ali K. wird klar, dass er und seinesgleichen eben nicht erwünscht sind. An diesem Montag zerbricht sein Traum vom Gelobten Land - und auch für Dachau ist es ein schwarzer Tag. Am Dienstag bewegt die Bürger, die sich überhaupt dafür interessieren, vor allem eine Frage: Warum hat die Polizei die Asylsuchenden unbehelligt gelassen, aber sofort nach dem Überschreiten der Landkreisgrenze bei Karlsfeld zugeschlagen? Die andere Gruppe, die über Freising zog, wurde schon am Sonntag gestoppt. Die offiziellen Antworten bringen keine Klarheit. Aus taktischen Gründen, sagt ein Polizei-Sprecher, weil am Sonntag nach Freising keine Kapazitäten mehr verfügbar waren, meint ein anderer - und der dritte stellt sinngemäß fest: Wo wir einen Einsatz machen, bestimmen immer noch wir.

"Das liegt doch auf der Hand", meint der Dachauer SPD-Unterbezirkschef und Landtagsabgeordnete Martin Güll. Man wollte eben den Namen Dachau, der weltweit schon mit dem Holocaust und anderen Naziverbrechen assoziiert wird, nicht weiter in Verruf bringen. Denn in Dachau ist man inzwischen schon stolz auf das neue Image der Stadt als Lernort für Menschenrechte. Kulturreferent Dominik Härtl hatte kürzlich in der Stadtratssitzung ein Statement abgegeben: Nicht nur in der Erinnerungspolitik, auch in der Asylpolitik wirke die Stadt für ganz Deutschland vorbildlich. Der Anlass war die Zusage von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), die menschenunwürdigen Baracken für Asylsuchende in der Kufsteiner Straße durch einen Neubau ersetzen zu lassen. Das hatten ihm seine Parteifreunde, Oberbürgermeister Peter Bürgel und Landrat Hansjörg Christmann, abgerungen. Härtl hat sich getäuscht. Auf die Dachauer Symbolwirkung ist gepfiffen, wenn es um die Interessen der Landeshauptstadt geht. Als die Asylsuchenden vor einem knappen Jahr nach Berlin marschierten, wurden sie von bayerischen Polizeibeamten freundlich bis zur Landesgrenze eskortiert. Jetzt aber ist das Ziel München, und die Polizei hat ihr Verhalten geändert. Der CSU-Kreischef und Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath verweist auf die "ganz schlimmen Erfahrungen" Münchens mit dem Hungerstreik von Asylsuchenden am Rindermarkt im Juli diesen Jahres.

Seidenath betont die fortschrittliche Asylpolitik Dachaus. Schon wegen der geschichtlichen Verantwortung biete man Verfolgten Schutz. Genau das hat die Stadt nicht getan, sondern die Augen verschlossen und friedliche Demonstranten nach der Landkreisgrenze - als wäre es eine andere Welt - in die Polizeiattacke laufen lassen. Albert Kapitza, stellvertretender Inspektionsleiter, spielte den Ahnungslosen: "Wir haben nichts vorgesehen." Nur Verkehrsregelung. So wie der Zivilbeamte auf dem Fußweg zum Freiraum? Der Lernort Dachau ist karikiert worden - auch wenn die Stadtpolitik das nicht wahrhaben will. Güll sagt am Morgen danach: Da spielten CSU-Kommunalpolitiker die großen Aussöhner mit der Vergangenheit, und wenn es darauf ankomme, daraus Lehren zu ziehen, schauten sie weg.

Das taten die meisten. Rose Kraus, Vorsitzende des Arbeitskreises Asyl, aber kam, und mit ihr Christine Wörthmann, Katharina Seibold, Leiterin des Jugendzentrums Ost, Anna Binder und andere Mitglieder des Arbeitskreises sowie Björn Mensing, Pfarrer der evangelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte. Und als einziger aus dem Stadtrat marschiert Horst Ullmann (SPD) mit. "Wir als stärkste Wirtschaftsmacht in Europa müssen Flagge zeigen und die Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Deutschland braucht diese jungen, begabten Leute", sagt er. Auf dem Regenmantel der 77-jährigen Rose Kraus prangt das Bundesverdienstkreuz, als sie sich schützend vor die Asylsuchenden auf dem Boden stellt. "Kein Mensch ist illegal", ruft sie. Wären die Dachauer, so vermuten sie, nicht dabei gewesen, wäre die Polizei noch härter vorgegangen.

Die Demonstranten fordern die Abschaffung der diskriminierenden "Residenzpflicht", ein Euphemismus für die Tatsache, dass sie eingesperrt sind - in den Bezirk, den Landkreis oder in großen Städten. Die Residenzpflicht besteht nirgendwo in der Europäischen Union, nur in Deutschland, und auch dort nur noch in Sachsen und Bayern. Aber gäbe es sie nicht, dann strömten alle Asylsuchenden in die großen Städte, sagt ein Polizeisprecher auf der A 99-Brücke. Die Landtags-SPD hat mehrere Versuche zu ihrer Aufhebung unternommen - aber die CSU steht geschlossen dagegen. Seidenath verweist darauf, dass man sie schon 2009 gelockert habe. Aber: Wenn man sie ganz aufhebe, dann seien alle in München. Davon haben ihn Experten überzeugt - einmal ganz unabhängig von der geschichtlichen Erfahrung Dachaus. Er sieht die bayerische Asylpolitik in einem "gut austarierten Gleichgewicht", das aber durch Aktionen wie den Protestzug oder des Flüchtlingsrats bedroht sei. "Unschön" seien die Bilder vom Polizeieinsatz schon. Aber kritisieren will er sie nicht, solange die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibt. "Die Sicherheit, die wir in Bayern haben, ist ein hohes Gut", sagt er. Gerade deshalb kämen ja die Flüchtlinge aus Kriegsregionen, weil sie dort nicht sicher seien. Auf diesen Gedanken ist Ali K. gar nicht gekommen, als ihn USK-Beamte die Arme verdrehten, die Hände fesselten und über den Boden schleiften.

© SZ vom 04.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: