KZ-Gedenkstätte Dachau:Vernichtung und Verdrängung

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Der Band zum 18. Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte beleuchtet den beschämenden Umgang mit den Opfern des Angriffskriegs auf die Sowjetunion

Von Walter Gierlich, Dachau

"Hitlers Vernichtungskrieg hatte nicht nur die Zerstörung der politischen und militärischen Strukturen der Sowjetunion zum Ziel, sondern vor allem auch die ,Eroberung von Lebensraum', und das hieß: Vernichtung, Versklavung oder Vertreibung der sowjetischen Bevölkerung. Insgesamt rund 27 Millionen sowjetische Bürger, darunter mehr als die Hälfte Zivilisten, wurden Opfer dieses verbrecherischen Feldzugs, mit dem auch der Holocaust einsetzte. Etwa 1700 Städte und 70 000 Dörfer wurden von den deutschen Truppen und ihren Verbündeten auf dem Vormarsch ,nach Osten' zerstört." Mit diesen Sätzen machen Jürgen Zarusky und Sybille Steinbacher, seit 2012 Projektleiterin der Veranstaltungsreihe, bereits im Editorial des Buches "Der deutsch-sowjetische Krieg 1941 - 1945. Geschichte und Erinnerung" klar, um welch gewaltiges Thema es im Oktober 2018 beim 18. Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte ging. Von besonderer Tragik ist, dass Jürgen Zarusky, der bei dem zweitägigen Symposium die wissenschaftliche Leitung innehatte, die Herausgabe des Tagungsbands gut zwei Jahredanach nicht mehr erleben konnte. Er starb wenige Monate später, am 4. März 2019, nach kurzer, schwerer Krankheit.

Natürlich geht es in den Aufsätzen der deutschen und russischen Historiker in dem knapp 300-Seiten-Werk auf der einen Seite um die weltgeschichtliche Dimension dieses zentralen Konflikts im zentralen Krieg des 20. Jahrhunderts, als den ihn Dieter Pohl in seinem Beitrag bezeichnet. Breiten Raum nehmen aber auch die Erinnerung und der unterschiedliche Blick auf den Vernichtungskrieg in Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion ein. Wurde er jahrzehntelang und teilweise bis heute hierzulande verdrängt und die Wehrmacht eher als Opfer, denn als Täter wahrgenommen, so war das offizielle Gedächtnis in der UdSSR vom Heroismus im Großen Vaterländischen Krieg geprägt, während das Leid der Bevölkerung kaum eine Rolle spielte.

In seinem Aufsatz über die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1933 und 1941 beschreibt der Moskauer Historiker Sergej Slutsch, wie sich der sowjetische Diktator Stalin, der trotz aller ideologischen Gegensätze immer wieder die Annäherung an Nazi-Deutschland suchte, letztlich von Hitler über den Tisch ziehen ließ. Der Pakt zwischen beiden Mächten habe dem Aggressor Hitler im übrigen Europa Handlungsfreiheit gewährt. Dabei habe er sein Ziel, die Sowjetunion zu zerschlagen, während der ganzen Geltungsdauer nie aus den Augen verloren. Dieter Pohl zeigt auf, dass Hitler seine Herrschaft über den Rest Kontinentaleuropas und Nordafrika ohne den Überfall auf die UdSSR hätte stabilisieren können, dass er diesen aber für sein Weltherrschaftskonzept brauchte.

Einen eigenen Abschnitt widmet der Band dem schrecklichen Los der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. 5,7 Millionen, von denen mehr als drei Millionen durch Hunger, Folter, Mord und aufgrund der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen den Tod fanden. Andreas Hilger bietet dazu einen Überblick über die lange vernachlässigte Forschung, die seinen Ausführungen zufolge immer noch erhebliche Leerstellen aufweist. Das gilt auch für das Konzentrationslager Dachau und den SS-Schießplatz Hebertshausen, die Gabriele Hammermann, die Leiterin der Dachauer KZ-Gedenkstätte, in ihrem Beitrag als zentrale Exekutionsorte für sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet bezeichnet. Mehr als 4000 Kriegsgefangene wurden hier von September 1941 bis Juni 1942 erschossen. Erst 2014 wurde der Schießplatz zu einem würdigen Gedenkort umgestaltet mit Namenstafeln für die Ermordeten. Allerdings wurden bisher erst etwas mehr als 800 der Opfer namentlich ermittelt. Hammermann hofft jedoch, dass langfristig bis zu 2000 recherchiert werden können.

Hammermanns Vorgängerin als Gedenkstättenleiterin, Barbara Distel, schreibt über die insgesamt mehr als 25 000 sowjetischen KZ-Häftlinge, die zweitgrößte nationale Gruppe im Dachauer Lager. Neben Kriegsgefangenen waren viele von ihnen Zwangsarbeiter, die oft sehr jung ins Deutsche Reich verschleppt worden waren. Sie seien dann "aus unterschiedlichen Gründen zur Strafe ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen worden". Nach ihrer Rückkehr in die Heimat, mit der ihre Tragödie meist nicht endete, da sie der Kollaboration bezichtigt wurden, vergaß man hierzulande ihr Schicksal im Kalten Krieg weitgehend. Erst nach 1990 schickten viele ehemalige Häftlinge Briefe nach Dachau, um schriftliche Nachweise für ihre KZ-Haft zu erhalten. Daraus entstand die Idee, alljährlich ehemalige Gefangene aus den ehemaligen Sowjetrepubliken zur Befreiungsfeier einzuladen. Distel sieht das 1992 gestartete Besuchsprogramm "als großes Geschenk ... für die deutsche Gedenkkultur".

Doch nicht nur in Deutschland wurde in der Nachkriegszeit viel verdrängt, wie Peter Jahn, der frühere Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, schildert, sondern auch in der Sowjetunion. Besonders deutlich machen das Yuliya von Saal, Natalia Timofeeva, Bert Hoppe und Christina Winkler in ihren Aufsätzen. Yulia von Saal schreibt über Kriegskindheiten in Weißrussland, wo etwa allein die Zahl der in Kinderheimen registrierten Waisen von 3370 im Jahr 1942, über 70 000 im November 1945, bis auf 138 137 im Herbst 1946 stieg. Etwa drei Millionen wurden in der gesamten UdSSR zu Vollwaisen. Jedoch betont von Saal: "In der sowjetischen Meistererzählung des Krieges bekamen Kinder und ihre Kriegserfahrungen kaum Platz." Wenig Raum in der sowjetischen Geschichtsschreibung habe lange Zeit auch das Schicksal der Zivilbevölkerung eingenommen, teilt Timofeeva mit. Beispielsweise haben die Menschen im heftig umkämpften Gebiet Woronesch am Don Obdachlosigkeit, Hunger, Misshandlungen, Deportation und Zwangsarbeit erlitten.

Christina Winkler zeigt auf, dass das Holocaust-Narrativ in den letzten Jahren zwar Eingang in die russische Erinnerungskultur gefunden hat, aber fest an die Befreiung von Auschwitz gekoppelt ist. So werde beispielsweise zwar der Massenerschießung von Juden in Russland, der in Rostow am Don mehr als 20 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, mit einer Tafel gedacht, aber der Begriff Holocaust darauf nicht erwähnt. Möglicherweise kann der Aufsatz von Bert Hoppe dieses Verschweigen erhellen, der auf den schon im Zarenreich tiefverwurzelten und nie ganz verschwundenen Antisemitismus verweist. Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion seien vielerorts Juden "von Nachbarn zu Ausgestoßenen" geworden. Damit ist auch zu erklären, wie gespalten Grzegorz Rossolinski-Liebe die Erinnerung an Holocaust und Weltkrieg in der Ukraine darstellt: Instrumentalisiert einerseits durch die Ideologie der Nationalisten und andererseits durch die sowjetische Propaganda.

Anlass zur Besorgnis bietet für die Historikerin, Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa jedoch auch die aktuelle russische Geschichtspolitik. Scherbakowa gehört zu den Initiatoren der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich um die Aufklärung und Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen bemüht, die aber von den russischen Behörden seit Jahren unter massiven Druck gesetzt und verfolgt wird. Sie erzählt im Gespräch mit Jürgen Zarusky und Sybille Steinbacher nicht nur ausführlich aus ihrer Familiengeschichte und den Kriegserlebnissen ihres Vaters. Sie erklärt auch, dass der Krieg immer mehr zu einer Ikone stilisiert worden sei, bei der es nicht um die Opfer, sondern "nur um den Sieg und den Heldenmythos" gehe. "Und an die Ikone muss man einfach glauben. Wer es anders sieht, ist kein Patriot - das wird von Kreml-Propagandisten stets betont." Auch heute noch.

Jürgen Zarusky / Sybille Steinbacher (Hrsg.): Der deutsch-sowjetische Krieg 1941-1945. Geschichte und Erinnerung. Göttingen 2020, 292 S., 20 Euro.

© SZ vom 17.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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