Jahresrückblick:Von Welle zu Welle

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Die Experten aus dem Landkreis appellieren erneut an die Menschen im Landkreis, sich impfen zu lassen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Auch im zweiten Jahr der Pandemie offenbart sich das Komplettversagen der Politik. Dem Landkreis Dachau mit seiner zu geringen Impfquote drohen zum Jahreswechsel nicht nur die Virusmutante Omikron, sondern auch noch zunehmend radikalisierte Impfgegner

Von Helmut Zeller, Dachau

Als wäre es ein Déjà-vu, doch die Koordinierungsgruppe Pandemie unterlag keiner Erinnerungstäuschung - leider. Am Mittwoch vor Weihnachten trafen sich 36 Experten des Landkreises Dachau, um wieder einmal über eine neue gefährliche Virusmutante zu sprechen. Nach Delta nun Omikron. Mitte Dezember war der erste Landkreisbewohner an dieser Mutation des Virustyps SARS-CoV-2 erkrankt. Die Teilnehmer - Vertreter der Ärzteschaft, der Kliniken, des Gesundheitsamtes, von Pflege- und Behinderteneinrichtungen, Polizei und Feuerwehr, Schulamt und Gemeinden - gingen mit einer düsteren Aussicht in die Feiertage. Die fünfte Corona-Welle kommt. Landrat Stefan Löwl (CSU) fasste die Lage so zusammen: "Dies ist die Ruhe vor dem Sturm."

Einige Zahlen: 15 535 Personen von mehr als 155 000 Einwohnern des Landkreises Dachau sind bisher an Covid-19 erkrankt (Stand: 23. Dezember), 14 554 sind genesen, 172 Erkrankte gestorben. Die Krankenhausampel steht auf Rot, die Inzidenz liegt nach einem deutlichen Rückgang bei etwas über 200 - über die Feiertage könnte sie, so die Hoffnung, etwas gesunken sein. Die Ärzte rechnen jedoch mit einem massiven Anstieg in den kommenden Wochen, durch die Omikron-Variante.

Ein Funken Hoffnung: "Wir alle können aber etwas tun, um diesen Sturm abzuschwächen: Bitte lassen sie sich jetzt impfen - Impftermine in Praxen und bei den Impfteams sind verfügbar!" Diesen Appell richtet die Expertenrunde an die Menschen, die sich gerade auf das zweite Weihnachtsfest unter Einschränkungen einstimmten. Viele Konzerte, Weihnachtsmärkte und Gottesdienste sind abermals ausgefallen.

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Die erste Impfung haben 72,6 Prozent der Landkreisbewohner erhalten, die zweite 70,7, die Booster-Impfung 37 Prozent (Stand: 20. Dezember). Alles zu wenig. Viel zu wenig, um die vierte Welle im Herbst und Winter zu brechen, ganz zu schweigen von der kommenden fünften. Und das in einem Landkreis, in dem sich CSU-Vertreter in der ersten Jahreshälfte so gerne damit gebrüstet hatten, bei der Impfquote ganz vorne zu liegen, Bayern und die Bundesrepublik hinter sich gelassen zu haben. Als ginge es um eine Impf-Olympiade, allerdings eine mit Spaßfaktor null. Aber die Politik, die auf Welle um Welle nur überrascht reagierte, hat in dieser Pandemie ohnehin kaum jemals eine gute Figur gemacht. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hat in diesen Tagen Fehler in der Kommunikation eingeräumt - vielleicht, um so das Komplettversagen der Politik vergessen zu machen.

Mitte November im Corona-Land Dachau: Die Sieben-Tage-Inzidenz ist so hoch wie noch nie in der Pandemie, liegt bei 539 pro 100 000 Einwohner (Stand: 19. November). Zunehmend werden auch Impfdurchbrüche registriert. Die Krankenhaus-Ampel steht auf Rot, Bayern hat den Katastrophenfall ausgerufen, und in den Kliniken droht die Triage. Ärzte müssten dann entscheiden, wer eine lebensrettende Behandlung bekommt und wer nicht. Das Pflegepersonal in den Kliniken und die Hausärzte, die impfen, arbeiten bis zum Anschlag.

Patienten werden in Krankenhäuser anderer Bundesländer ausgeflogen.

Wie konnte es dazu kommen? Deshalb, weil die Politik eben auf Sicht fährt - und klar, die Inzidenz im Landkreis lag am 23. Juli bei 18,7 je 100 000 Einwohner. In diesem Monat prophezeiten Modellberechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) genau die vierte Welle für Herbst und Winter. Aber vor aller Augen stand im Sommer die Bundestagswahl am 26. September. Da wurde die Schließung der Impfzentren zu Ende September vorbereitet - obwohl Fachleute eindringlich davor warnten. Da wurden auch die Booster-Impfungen, die Experten als notwendigen Schutz vor der vierten Welle forderten, jetzt als Grundlage für die Abwehr der Omikron-Welle erachten, nicht vorbereitet. Das durchschnittliche Politikergehirn tickt so: Man will die Wähler nicht durch unbequeme Wahrheiten vergraulen - weshalb zum Beispiel die FDP auf Wahlkampfveranstaltungen gleich mal vom Ende der Pandemie schwafelte und erklärte, mit ihr in der Regierung werde es nie und nimmer eine Impfpflicht geben.

Jetzt diskutiert die Ampel-Regierung, nachdem sie die epidemische Notlage nationaler Tragweite beendet hat, die Einführung eben dieser Impfpflicht. Sie wird kommen. Im Freistaat erklärten CSU-Politiker vom Ministerpräsidenten Markus Söder über Minister Holetschek bis zum Dachauer Landrat unisono: Die Wucht der vierten Welle habe so niemand vorausgesehen, auch die Experten nicht. Löwl sieht die Schließung der inzwischen wieder eröffneten Impfzentren nicht als einen Fehler an: "Es war die richtige Entscheidung im Sommer", sagte er im November der SZ.

Vorausschauend war es jedenfalls nicht. Auch nicht hinaufschauend. "Don't look up" heißt eine US-amerikanische schwarze Komödie, die zum Heiligen Abend auf Netflix anlief. Man müsse doch nur zum Himmel hinaufschauen, dann würde man den Kometen, einen Planetenkiller, sehen, der schnurstracks mit flammendem Schweif auf die Erde zurast, warnen Wissenschaftler. Aber die Politik, allen voran Meryl Streep als Präsidentin der Vereinigten Staaten - mit Baseballmütze eine Karikatur von Trump - leugnet wegen bevorstehender Wahlen die offensichtliche Gefahr, ebenso ein Teil der Bevölkerung, der die Tatsachen leugnet und Verschwörungserzählungen verbreitet.

Die allermeisten im Landkreis achten seit Beginn der Pandemie penibel auf die Corona-Regeln, tragen Maske, wahren Abstand und akzeptieren die Einschränkungen - zu ihrem eigenen und zum Schutz der Allgemeinheit. Aber es gibt auch andere. Anfang Januar müssen zehn Corona-Patienten im Amperklinikum beatmet und intensiv betreut werden, 30 weitere liegen auf der Normalstation. "Wir schaffen es gerade noch, sind aber kurz vor der Krise", sagt Löwl. Währenddessen herrscht Hochbetrieb am Monte Kienader in Dachau sowie an den Schlittenbergen am Karlsfelder See oder der Schinderkreppe in Dachau. Während die Kinder sich beim Rodeln austoben, stehen Erwachsene in kleinen Grüppchen zusammen. "Überall bekommen wir die riesigen Auswirkungen der Pandemie zu spüren: in der Wirtschaft, dem sozialen Umfeld und gesellschaftlich, weil wir eine Ausbreitung von Corona verhindern wollen, und dort stehen die Leute zusammen und trinken", ärgert sich Löwl über die Glühweinrunden im Schnee.

Aber es kommt noch ärger. Im April versammeln sich etwa 200 Gegner der Corona-Regeln auf der Thoma-Wiese in Dachau. Sie protestieren - noch - friedlich mit Maske und Abstand gegen die in ihren Augen überzogenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Auf einigen Schildern steht: "Impfung - nein danke!" Eine ältere Frau glaubt tatsächlich, es sei wahrscheinlicher, von einem Asteroiden getroffen zu werden, als an Corona zu sterben. Bisher sind allein im Landkreis Dachau mehr als 130 Menschen infolge einer Covid-19-Erkrankung gestorben, aber seit Beginn der Pandemie ist noch kein einziger Asteroid eingeschlagen.

Im Dezember dann kommt es zu Corona-Protesten in Markt Indersdorf, Altomünster und in der Stadt Dachau. Die Demonstrationen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmern sind nicht angemeldet und werden als "Spaziergänge" deklariert - nach dem Muster bundesweiter Aufmärsche gegen die Corona-Politik. "Wir sind das Volk", skandieren die Demonstranten, die mit Laternen und Kerzen durch die Straßen ziehen. Die Polizei wirkt hilflos. Auf Telegram verabreden sich Impfpflichtgegner und Pandemieleugner. Geheime Chatprotokolle, die von der SZ Dachau analysiert wurden, zeigen, wie sich der Dachauer Corona-Protest radikalisiert: NS-Vergleiche, Reichsbürgerpropaganda und Verschwörungsmythen.

Zu Gewaltausbrüchen wie bei einem sogenannten Spaziergang in München, wo die Polizei Schlagstock und Pfefferspray einsetzte, ist es noch nicht gekommen. Der Leipziger Soziologe Johannes Kiess rechnet jedoch mit einer allgemeinen Eskalation der Corona-Proteste. Er wirft Politik und Polizei vor, "viel verschlafen" zu haben. "Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten Gewalt erleben, ob wir eine Impfpflicht haben oder nicht", sagte der Wissenschaftler im Gespräch mit BR 24 Rundschau. In Ostdeutschland werden diese Aufmärsche von Rechtsextremen dominiert, sie nehmen aber auch Einfluss auf Demonstrationen in Bayern wie in Dachau, wo die Teilnehmer hauptsächlich aus bürgerlichen Milieus stammen.

Lehrer, besorgte Mütter, Grünen-Wähler, Menschen aus dem Milieu der Esoteriker und Anthroposophen, wie einige im Gespräch mit anderen offenbaren, sind am Montag vor einer Woche dabei. Gut situierte Bürgerinnen und Bürger, denen es, das wird aus den Gesprächsfetzen klar, nicht nur um die Kritik an der Corona-Politik geht, sondern am Staat überhaupt. Die Grenzen zwischen rechtsextremen Gedankengut und bürgerlichem Protest schwinden zusehend. Das macht ein Demonstrant deutlich: "Wenn da ein oder zwei Rechtsextreme dabei sind. Ja und?"

"Diese Pandemie ist ein Test", sagte Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) auf der Gegenkundgebung am Montag vergangener Woche. Die Gegendemonstration wurden von den Jugendorganisationen der demokratischen Parteien und dem Kreisjugendring organisiert. "Diese Pandemie stellt unsere Solidarität auf die Probe, sie ist eine Prüfung für unsere soziale Intelligenz, sie eine Prüfung unseres Gemeinschaftssinns. Manche fallen bei diesem Test krachend durch. Aber die allermeisten bestehen diesen Test mit Bravour." Hartmann, auch die Bürgermeister von Indersdorf und Altomünster haben reagiert. Inzwischen hat Landrat Löwl zu einer Videoschalte alle 17 Bürgermeister im Landkreis eingeladen, um über den Umgang mit den Corona-Protesten zu beraten. Das Ergebnis ist noch nicht bekannt.

Und wieder, alle Jahre wieder, sind diejenigen aus dem Blick geraten - ob von Coronaleugnern oder der Politik -, die mit zu den am meisten Belasteten in der Krise gehören. Die Pflegekräfte am Amper-Klinikum zum Beispiel. Die Bundesregierung hat die Entscheidung über die angekündigte Bonuszahlung auf 2022 verschoben. Oder die Obdachlosen, die in Sammelunterkünften besonders gefährdeten Asylsuchenden oder gar die Drogenabhängigen, die in der Krise besonders leiden - die stehen am Rand der Gesellschaft, für den sich ohnehin kaum jemand interessiert. Auch eine Art Déjà-vu. Corona offenbart zwischen vierter und fünfter Welle: Wir waren nie eine Gemeinschaft.

© SZ vom 28.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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