Erinnerungskultur:"Die Gegenwart ist kompliziert geworden"

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Seit 1952, also seit 71 Jahren, veranstaltet die Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Konzentrationslager Dachau anlässlich der "Nacht der Schande", der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Das Motto lautet stets: "Erinnern heißt kämpfen". (Foto: Toni Heigl)

Bei der Gedenkfeier der bayerischen DGB Jugend zum 85. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938 mahnt die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums Mirjam Zadoff vor dem erstarkenden Antisemitismus.

Von Walter Gierlich, Dachau

Das Motto, unter das die DGB-Jugend Bayern ihre diesjährige Gedenkfeier zum 85. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 stellt, lautet: "Erinnern heißt kämpfen". Und so steht zwar die Erinnerungskultur im Mittelpunkt der Veranstaltung. Dennoch wird sie in allen Redebeiträgen mit aktuellen Bezügen verknüpft, sei es mit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober oder dem gesellschaftlichen Rechtsruck, gegen den es anzukämpfen gilt. Daher hätte man sich durchaus mehr als die etwa 200 Teilnehmer gewünscht, die vom Appellplatz zur Kranzniederlegung am Krematorium mitlaufen.

Wenn erinnern kämpfen heißt, "so sind wir gefordert, unsere Demokratie zu verteidigen", betont Anna Gmeiner, die Bezirksjugendsekretärin des Deutschen Gewerkschaftsbunds Bayern, in ihrer Begrüßungsansprache auf dem Appellplatz. Sie erklärt, dass die jungen bayerischen Gewerkschafter bereits seit 1952 alljährlich der Pogrome gedenken, die den Auftakt der Shoa darstellen. Voller Skepsis fragt sie, welche Wirkung, welche Bedeutung diese Veranstaltungen haben, wenn 90 Jahre nach Errichtung des Konzentrationslagers Dachau eine weithin rechtsextremistische Partei mit 15 Prozent in den bayerischen Landtag gewählt wird, die von "Schuldkult" spricht und auf Ausgrenzung setzt. Wenn im zurückliegenden Landtagswahlkampf "verbale Entgleisungen an der Tagesordnung waren". Große Angst bereitet ihr auch der Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober auf den Straßen zeige. Da müsse man sich selbstkritisch die Frage stellen, was vom vielbeschworenen "Nie wieder" noch übrig sei.

Ernst Grube weiß, wohin Antisemitismus führt

Wohin Antisemitismus führt, macht Ernst Grube, der Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, an der zweiten Station auf halbem Weg zum Krematorium deutlich. Der 90-jährige Sohn einer jüdischen Mutter und eines kommunistischen Vaters hat als Kind erlebt, was Ausgrenzung bedeutet. Die Familie hat schon im August 1938 den Abriss der Münchner Hauptsynagoge erlebt und verlor ihre Wohnung. Die drei Kinder landeten in mehreren Heimen, ehe sie mit ihrer Mutter 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert wurden.

Als er nach der Befreiung durch die Rote Armee nach München zurückkehrte, habe er wenig vom KZ Dachau gewusst, schildert er. Bald habe er jedoch viele ehemalige Häftlinge kennengelernt und mit ihnen zusammen gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik gekämpft. Denn es sei letztlich der Krieg der Wehrmacht gewesen, der den Holocaust erst möglich gemacht habe, so Grube. Kritik übt er auch, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zur Kriegstüchtigkeit aufruft: "Frieden stiften ist notwendig statt Kriege befeuern." Große Sorge bereiten dem Shoa-Überlebenden der Rechtsruck in unserer Gesellschaft, die "Zunahme faschistischer Gewalt" sowie die Ausgrenzung und Abwehr von Flüchtlingen.

Allianzen entglitten, die die Gesellschaft vor einem Abgleiten nach rechts bewahren sollten

Ehe die Teilnehmer sich wieder auf den Weg machen, präsentieren Luisa Haas und Maximilian Klante von der DGB-Jugend die Biografien zweier Häftlinge des KZ Dachau. Der eine ist Hans Kurt Eisner, 1904 geborener Sohn des 1919 von einem Rechtsextremisten ermordeten ersten bayerischen Ministerpräsidenten. Er wurde als politischer Häftling und Jude 1933 inhaftiert, zunächst in Gefängnissen, danach in mehreren Konzentrationslagern, darunter Dachau. 1942 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Die zweite Biografie ist die, der 1924 als Junge geborene Lucy Salani, die als einzige italienische Transfrau die Zeit im KZ überlebte. Nach der Befreiung aus dem KZ Dachau kämpfte sie in ihrem Heimatland gegen Homo- und Transfeindlichkeit, bis sie im März 2023 im Alter von 98 Jahren starb.

Mirjam Zadoff leitet das Münchner NS-Dokumentationszentrum und hielt die diesjährige Gedenkrede in Dachau. (Foto: Toni Heigl)

Nach der Kranzniederlegung spricht Mirjam Zadoff, die Direktorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, beim Krematorium über die "Gegenwart, die kompliziert geworden ist". Es lägen nur wenige Wochen zwischen dem Gedenktag zur Pogromnacht und dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober. "Der daraufhin erfolgte Ausbruch von antisemitischer Gewalt erfüllt mich mit großer Sorge", erklärt sie. Allianzen entglitten, die unsere Gesellschaft vor einem Abgleiten nach rechts bewahren sollten. Plötzlich sei nur noch die Rede von zugewandertem Antisemitismus, "doch es ist unser Antisemitismus, unsere Krise, unser aller Demokratie".

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:"Erinnerungskultur muss gerade jetzt widerständig sein"

Der Konsens des "Nie wieder!" wird immer heftiger angegriffen. Die Vergangenheit ist umkämpft. Ein Grund dafür ist laut der Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums Mirjam Zadoff, dass es an einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft mangelt.

Interview von Thomas Radlmaier

Der Schock über die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg habe zur Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 geführt, in der es heißt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Jeder habe Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder Stand. Das sei mehr als ein hoffnungsvolles "Nie wieder" und doch sei seither ein Krieg auf den anderen gefolgt. Knapp 80 Jahre nach Kriegsende sei der Konsens des "Nie wieder" kein Konsens mehr, so Zadoff.

Ausführlich geht sie ein auf das Buch "Das Recht ein Mensch zu sein", das die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch 1968 zum 20. Jahrestag der UN-Menschrechtserklärung herausgebracht hat. Hersch habe darin Texte aus den verschiedensten Kulturen und Zeitaltern zusammengetragen und aufgezeigt, dass "Menschen immer schon menschlich waren", erklärt Zadoff und ergänzt: "Wenn wir beginnen, anderen die Menschenwürde abzusprechen, sind wir selber nicht mehr sicher."

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