Lesung in Dachau:Wiederkehr einer deutschen Krankheit

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Antisemitismus schwappt nicht von den Rändern in die Mitte über, es ist umgekehrt: Lesung des Dachauer Autorenduos Eva Gruberová und Helmut Zeller in der Volksbank Dachau, moderiert von Martin Richter (li.) (Foto: Michaela Steiner, oh)

Antisemitismus ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, das macht ihn so gefährlich. Eva Gruberová und Helmut Zeller lesen aus ihrem neuen Buch in der Volksbank Raiffeisenbank Dachau.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Die Krankheitssymptome kommen vermeintlich harmlos daher. Ein 19-Jähriger fährt mit Blablacar von München nach Wien. Er unterhält sich mit dem Fahrer. Small Talk. Der Fahrer sagt, der 19-Jährige müsse doch als Jude in Deutschland keine Steuern zahlen. Eine Jüdin aus Berlin hört am Arbeitsplatz einen Kollegen hinterherrufen: "Was soll die jüdische Hast?" Ein Wohnungseigentümer erhöht seinen jüdischen Mietern den Mietpreis. Begründung: "Sie haben es doch." Ein Mann verbietet seinen Kindern, mit den Kindern der jüdischen Nachbarsfamilie einen Flohmarkt zu veranstalten und dort Kastanien zu verkaufen. "Das ist nichts für meine Kinder", den jüdischen Kindern dagegen "liegt das ja im Blut", meint er. Es sind dies Berichte aus der Mitte der Gesellschaft, dem Krankheitsherd. Die Diagnose: Judenhass.

Das Dachauer Autorenpaar Eva Gruberová und Helmut Zeller hat diese und viele weitere Beispiele für antisemitisches Denken in ihrem neuen Buch aufgeschrieben, das vor kurzem beim Verlag C. H. Beck erschienen ist. Es heißt: "Diagnose Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit." Gruberová ist freie Journalistin und Projektleiterin am Max-Mannheimer-Studienzentrum in Dachau, Zeller leitet die Dachauer Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Für ihr Buch sind sie durch Deutschland gereist und haben Juden zugehört, wie diese ihren Alltag erleben - in einem Land, das sich seiner sogenannten Aufklärung über die NS-Geschichte und den Holocaust rühmt. Sie zeigen schonungslos, dass der Antisemitismus erstens nach 1945 nie verschwunden und zweitens gesellschaftlich tief verwurzelt ist. Sie beleuchten in Reportagen und Interviews den Antisemitismus von rechts, von links und unter Muslimen. Doch der Fokus des Buches liegt klar auf der Mitte der Gesellschaft, dem "Krankheitsherd", wie die Autoren schreiben.

Ihre These ist: Antisemitismus schwappt nicht von den Rändern in die Mitte über, es ist umgekehrt. Antisemitismus kommt aus der Mitte. Von der Mitte hat sich das antisemitische Virus seit jeher zu den Rändern ausgebreitet. In der Mitte hat die Krankheit das kollektive Bewusstsein befallen. Und in der Mitte hat sich antisemitsches Denken über Generationen so sehr in den Hirnlappen festgebissen, dass den meisten Menschen gar nicht auffällt, wenn sie judenfeindliche Klischees verwenden.

Die Autoren zitieren Deborah Lipstadt, eine amerikanische Holocaust-Forscherin. Diese unterteilt Antisemiten in vier Typen: "den Extremisten, den Steigbügelhalter, den Salon-Antisemiten und den ahnungslosen Antisemiten". Der größte Schaden gehe demnach nicht immer von aggressiven Judenhassern aus, "sondern von ganz normalen Menschen, die ihre antisemitischen Ansichten durch eine Art kulturelle Osmose erhalten haben". Mehr noch als die Extremisten würden sie dafür sorgen, "dass der Antisemitismus lebt und gedeiht, und geben ihn an kommende Generationen weiter". Überspitzt formuliert: Jeder trägt das antisemitische Virus in sich und steckt andere damit an.

Die These des Buches bedingt unbequeme Wahrheiten. Doch genau diese wollen die Autoren offenlegen. "Unser Buch soll aufrütteln. Die Botschaft an die Leser ist, dass man sich reflektiert", sagt Eva Gruberová bei einer Lesung, die die Volksbank Raiffeisenbank Dachau mit den beiden Autoren veranstaltet hat. Im Gespräch mit Moderator Martin Richter sagt Gruberová, man dürfe Antisemitismus nicht nur anderen in die Schuhe schieben, sondern man müsse bei sich selber nachschauen und sich kritisch hinterfragen: "Wie bin ich selbst aufgewachsen, wie bin ich sozialisiert worden oder welche Bücher haben wir alle gelesen und wie wurden dort Juden dargestellt? Welche Judenbilder haben wir bis heute noch im Kopf?" Was denke man, wenn man die Wörter "Jude" und "Geld" höre? Sich selbst diese Fragen zu beantworten, sei unbequem, sagt Gruberová. "Aber wenn man dem Antisemitismus den Bodensatz entziehen will, ist es notwendig."

Die Autoren liefern mehrere Erklärungen dafür, warum Antisemitismus in Deutschland, aber auch in ganz Europa in der Mitte der Gesellschaft entspringt. "Der gegenwärtige Antisemitismus baut auf der 2000 Jahre alten Geschichte der Judenfeindschaft auf", schreiben sie. Daran mitgeschrieben hat maßgeblich die christliche Kirche. Die erste Weltverschwörungserzählung sei die von "den Juden als Mörder Christi". Auch heute noch würden die Kirchen davor zurückschrecken, die große Zahl antisemitischer Verse im Neuen Testament als "hasserfüllte Lügen" zu erklären.

Der heutige Antisemitismus lässt sich zudem freilich nicht ohne den Nationalsozialismus verstehen. Zwar mag mit Kriegsende das NS-Regime zusammengebrochen sein, doch die Antisemiten sind geblieben. Statt sich ihre Schuld einzugestehen, atme ein Großteil der Entnazifizierten "begeistert die Pest ins Volk", wie die Publizistin Susanne Kerckhoff 1948 schrieb. Damit entwickelten sich nach 1945 neue Formen der Judenfeindschaft: der Schuldabwehr-Antisemitismus. "Also Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz", erklärt Zeller bei der Lesung. Dieser äußere sich in Aussagen wie, dass "die Juden" Profit aus dem Holocaust ziehen wollten. Zeller sagt, Antisemitismus sei natürlich ein globales Phänomen. Doch wer über Antisemitismus spreche, müsse immer auch den Nationalsozialismus und den Holocaust mitdenken. "Und das sind deutsche Spezifika in der weltweiten Geschichte des Antisemitismus." Insofern wirke der Titel des Buches "Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit" zwar provokant, sei aber gerechtfertigt. Auch könne man von einer "Bewusstseinserkrankung" sprechen. Antisemitismus habe es überall gegeben, in allen großen monotheistischen Religionen, genauso wie im Kommunismus und den westlichen Gesellschaften. "Man sollte daher darüber nachdenken, ob das Problem Antisemitismus allein dadurch zu erklären ist, dass es eine politische Ideologie ist."

Dass Antisemitismus mehr ist als eine politische Ideologie, zeigt sich, dass er auch bei jungen Menschen verfängt, die noch kein abgeschlossenes politisches Weltbild haben. Für ihr Buch haben die Autoren mit jungen Jüdinnen und Juden im Jugendzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in München geredet. Diese erzählen von antisemitischen Übergriffen in ihren Schulen. Sie müssen sich "Du Jude" als Schimpfwort oder Witze über die Shoah sowie Hitlergrüße gefallen lassen. Ein Abiturient erzählt zum Beispiel, dass seine Schulkameraden als Abitur-Motto folgendes vorgeschlagen hätten: "Abi macht frei" oder "Verbrennt den Duden".

Laut einer Studie, welche die Autoren in dem Buch zitieren, haben zwei von drei Schülern im Alter von 13 Jahren massive Vorurteile gegen Juden verinnerlicht. Um Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen, plädieren Gruberová und Zeller daher dafür, bereits in den Schulen mehr über Antisemitismus aufzuklären. Sie schreiben: "Die Geschichte des Antisemitismus müsste unterrichtet werden, damit man versteht, welche psychologische Funktion antijüdische Vorurteile für die nichtjüdische Mehrheit früher hatte und immer noch hat, wie die Struktur einer antisemitischen Argumentation aussieht, damit man sie durchschauen kann, bei sich selbst und bei anderen."

© SZ vom 27.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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