Gedenken an die Shoah:Erinnerungen eines Aufklärers

Lesezeit: 3 min

Aufmerksamer Zuhörer: Uri Chanoch (links) mit seinem Freund Solly Ganor im Jahr 2008 bei einer Fotoausstellung in der Dachauer Gedenkstätte. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Der KZ-Überlebende Uri Chanoch hat viele Jahre lang in Schulen von seinen Erlebnissen berichtet. Acht Jahre nach seinem Tod wird seine Autobiografie vorgestellt.

Von Andreas Ostermeier, Fürstenfeldbruck

Uri Chanoch war ein Aufklärer. Dass die Shoah in Vergessenheit geraten könnte, das wollte er verhindern. Bis zu seinem Tod im Jahr 2015 berichtete der KZ-Überlebende vor allem in Schulklassen über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen. "You know nothing", du weißt nichts - diesen Satz haben viele Leute gehört, die Uri Chanoch kannten. Ihm war es zu wenig, wenn das Wissen über die Shoah nur bruchstückhaft vorhanden war oder gar noch weniger. An die Stelle von Unwissen wollte er Wissen setzen, und das Nicht-Wissen-wollen hat er bekämpft. Chanoch wollte, dass die Nachgeborenen aus dem Mund von Überlebenden wie ihm erfuhren, was in Ghettos und Konzentrationslagern passiert ist.

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Uri Chanoch war streitbar und konnte hitzig diskutieren. Nie aber attackierte er auf persönlicher Ebene, immer ging es ihm um die Sache. Die Shoah darf nicht vergessen werden, sie muss in Erinnerung bleiben, wegen der Ermordeten, wegen der Täter und wegen uns allen, den Nachgeborenen. Denn nur der, der die Vergangenheit kennt, kann verhindern, dass ein solch mörderisches Regime wieder an die Macht gelangt.

Mit den schriftlichen Erinnerungen (von links): Fridi, Galia und Shalomi Chanoch mit Shalomis Töchtern Ellie und Romi. (Foto: Toni Heigl)
Leihen Uri Chanoch ihre Stimme (von links): Jule Lenz, Melanie Kattermann und Anna Eberle vom Josef-Effner-Gymnasium sowie Maximilian Lütgens. (Foto: Toni Heigl)

Trotz all der schrecklichen Erlebnisse in früher Jugend - er war 13 Jahre alt, als die Wehrmacht in sein Heimatland Litauen einmarschierte und er ins Ghetto von Kaunas gezwungen wurde - war Chanoch keineswegs verbittert oder resignativ. Er hatte ein gewinnendes und freundliches Wesen. Gesprächspartnern begegnete er mit großer Aufmerksamkeit und, wenn er sie kennen gelernt hatte, mit viel Charme. Er selbst bezeichnete sich als optimistischen Menschen: "Denn auf Regen folgt stets Sonnenschein", diese Einstellung habe er von seiner Mutter gelernt, heißt es in Chanochs Autobiografie.

Mit seiner Autobiografie setzt Chanoch sein aufklärerisches Tun fort

Diese ist nun auf Deutsch erschienen und wurde am Freitag im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau vorgestellt. Mit dem Buch setzt Chanoch sein aufklärerisches Tun fort, darin erzählt er die Geschichte des KZ-Überlebenden aus Litauen, jüdischen Soldaten im Unabhängigkeitskrieg von 1948 und des israelischen Bürgers und Unternehmers, der er gewesen ist, für immer weiter - für alle, die das Buch mit dem Titel "Von Kaunas über Dachau in ein neues Leben" in die Hand nehmen und lesen.

Maximilian Lütgens, Mitarbeiter der Gedenkstätte, sowie die drei Schülerinnen Anna Eberle, Melanie Kattermann und Jule Lenz vom Josef-Effner-Gymnasium in Dachau lasen daraus vor. Und in dem, was sie vorlasen, konnten die Freunde und Bekannten, die gekommen waren, Uri Chanoch noch einmal zuhören, etwa wenn er von der Zeit seiner Geburt als einer Zeit "voll Optimismus und Hoffnung" spricht, in der die Juden in Litauen die Bürgerrechte erhielten. Außerdem berichtet er, wie er zur Strafe mit einer rohen Kartoffel im Mund eine kalte Nacht lang am Lagertor von Kaufering stehen musste - am Leib nichts als die dünne Häftlingsuniform oder erzählt vom Wiedersehen mit seinem Bruder auf dem Marktplatz von Bologna.

"Ich wollte die Realität so beschreiben, wie du sie gesehen hast"

Zu der Lesung reisten auch seine Töchter Galia und Fridi sowie sein Sohn Shalomi und dessen Töchter an. Somit kam es im Besucherzentrum nicht nur zu einer Lesung, sondern zu einer Erinnerungsfeier für den Aufklärer Chanoch in sehr freundschaftlicher Atmosphäre. Allein Judith Chanoch, die Witwe, fehlte. Sie konnte aus gesundheitlichen Gründen die Flugreise nicht antreten. Dabei ist das Buch auch ihr Werk. Sie hat es nach dem Tod ihres Mannes vollendet und an den Übersetzungen ins Englische und Deutsche mitgearbeitet. Über ihre Arbeit an der Autobiografie ihres Mannes sagt Judith Chanoch: "Als ich das Buch schrieb, ging ich mit dir auf deine Lebensreise. Ich durchlebte die Verzweiflung, das Glück und ging mit dir durch die Jahre der Angst, des Hungers und des Schreckens. Ich wollte die Realität so beschreiben, wie du sie gesehen hast." Die Worte der Mutter trug Tochter Fridi vor.

Karl Freller, Direktor der Stiftung bayerische Gedenkstätten, berichtete, wie er Chanoch kennengelernt hat und dieser ihm Israel zeigte. Man könne das Land nicht verstehen, wenn man sich nicht mit der Shoah beschäftige, habe Chanoch gesagt und alle seine Gäste erst einmal nach Yad Vashem geführt.

Chanoch setzte sich für Rentenzahlungen an Shoah-Überlebende ein

Chanoch war ein politischer Mensch, das machte Gabriele Hammermann deutlich. Die Leiterin der KZ-Gedenkstätte erinnerte daran, dass er sich mit Erfolg für Rentenzahlungen an Shoah-Überlebende eingesetzt hat. Mitsamt einer Gruppe litauischer Überlebender ist er viele Jahre lang Ende April nach Gauting gereist und hat durch seine Teilnahme das Gedenken an die Todesmärsche unterstützt. Damit habe er viel in der deutschen Gesellschaft und bei den Überlebenden bewegt, sagte Hammermann und würdigte Chanochs aufklärerischen Einsatz.

Uri und Judith Chanoch, Von Kaunas über Dachau in ein neues Leben. Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden, aus dem Englischen von Sabine Zaplin, Allitera-Verlag, 2022.

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