Ausstellung in der Gemäldegalerie:Das belgische Barbizon

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Joseph Coosemans "Spaziergang im Kempen". (Foto: Toni Heigl)

Die Gemäldegalerie zeigt eine Ausstellung zur Künstlerkolonie Tervuren bei Brüssel. Deren Landschaften erinnern teilweise ans Dachauer Moos, haben aber ganz andere Lichtstimmungen. Entstanden ist die Schau im europäischen Geist als internationale Kooperation.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Als 1866 mal wieder eine Ausstellung in einem Brüsseler Salon anstand, versah Hippolyte Boulenger seine Arbeit mit dem Zusatz "Elève de l'école de Tervuren", Schüler der Schule von Tervuren. "Seine Notiz auf der Bildrückseite hat er möglicherweise mit einem Lächeln im Gesicht vermerkt", schreibt Wim Scheere vom 1987 gegründeten Kunstverein "De Vrienden van de School van Tervuren". Von dieser "Schule" hatte bis dahin keiner je gehört.

Heute kann sich die 20 000 Einwohner zählende Stadt vor den Toren Brüssels mit dem Titel "belgisches Barbizon" schmücken und die Dachauer Gemäldegalerie mit einer neuen Ausstellung: "Tervuren. Eine belgische Künstlerkolonie". Die Schau ist ihr quasi in den Schoß gefallen aufgrund einer merkwürdigen Verkettung von Zufällen. Die Freunde der Schule von Tervuren spielen darin eine nicht unmaßgebliche Rolle, davon wird später noch die Rede sein.

Mitte des 19. Jahrhunderts war die Welt im Umbruch, die Industrialisierung machte die Städte zu lärmenden, schmutzigen Orten, die Künstler flohen ins Umland, suchten die unberührte Idylle, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, das einfache Leben. So war es in Frankreich, in Belgien, so war es in ganz Europa. Natürlich schadete es nicht, wenn ein Gasthaus in der Nähe war wie in Tervuren. In der Herberge "Au renard" wurde über die neuen Wege der Kunst diskutiert, es wurde getrunken, gefeiert und Wände und Möbel bemalt.

Die Natur als Lehrmeisterin

Barbizon, im Wald von Fontainebleau, war die erste bedeutende europäische Künstlerkolonie, aber ihr Ruf schallte auch nach Belgien: "La nature, notre seul maître." Auch in der "Schule von Tervuren" war die Natur nun die einzige Lehrmeisterin. Es war eine Abkehr von der akademischen Malerei, der freie künstlerische Ausdruck stand jetzt im Vordergrund, das Naturempfinden der Maler, die für ihre Bilder die ansprechendsten Szenen und Lichtstimmungen suchten.

Bei den Kunstschauen wurden die Arbeiten der Freilichtmaler aus Tervuren anfangs oft noch aussortiert oder landeten in Ecken, wo man sie leicht übersehen konnte, zu eigenwillig erschien dem Publikum der neue Stil. Boulenger ist dafür selbst das beste Beispiel. Obgleich Vertreter der ersten der drei Künstlergenerationen in Tervuren, die bis etwa 1910 bestand, erkennt man in seinen Bildern eine für die Zeit bemerkenswerte Freiheit im Ausdruck, manche wirken für ihre Zeit schon unerhört modern.

Das Ölgemälde "De Voer bei Tervuren" von 1874 zeigt das Flüsschen Voer, das Tervuren seinen Namen gab, gesäumt von knorrigen Laubbäumen. Mit Details hat der Künstler sich nicht lange aufgehalten, Wasser, Wiesen und Wald sind mit kräftigen Pinselstrichen aufs Holz gemalt, das dunkle Grün, das Braun, das Schwarz modellieren den Raum aus hellen und dunklen Farbflächen, das Beige der letzten trockenen Blätter, die noch an den Ästen flirren, setzt sich fort in dem unruhigen, fleckigen Wolkenhimmel, der aussieht, als würde ein Sandsturm aufziehen.

Mag das in kurzer Zeit gefertigte Bild auch arm sein an Details, der Ausdruck und die Lichtstimmung sind unheimlich intensiv. Hier zeigen sich schon früh Stilmerkmale, wie sie später für den Impressionismus, teils auch für den Expressionismus prägend sind. Der Moderne wird bereits der Weg geebnet.

Hippolyte Boulenger, "Die Voer bei Tervuren". (Foto: Toni Heigl)
Guillaume Vogels, "Ansicht der Marienkirche in Schaarbeek". (Foto: Toni Heigl)
Joseph Francois, "Holzfäller im Zonienwald". (Foto: Niels P. Jørgensen)
Euphrosine Beernaert, "Weidende Kühe". (Foto: Niels P. Jørgensen)
Jules Montigny, "Kinder und Schaf". (Foto: Niels P. Jørgensen)
Besuch bei Freunden: "De Vrienden van de School van Tervuren", von links: Wim Scheere, Dachaus OB Florian Hartmann, Michel De Brauwer und Dubois Thierry. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Camille van Camp, "Alice van Harven mit Violine". (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Motive aus Tervuren weisen dabei manchmal erstaunliche Ähnlichkeit mit den Werken aus der Künstlerkolonie Dachau auf: bewaldete Haine, Weiden und Triften, Marschland mit Wasserflächen, wie man sie früher auch im Dachauer Moos fand. Dazwischen Kühe und Schafe, darüber ein weiter Himmel mit Wolken wie aus braunem Rauch. "Das Licht ist bei uns ganz anders", sagt die Kunsthistorikerin Elisabeth Boser. Sie muss es wissen, sie ist seit mehr als drei Jahrzehnten Chefin der Dachauer Galerien und Museen und hat die aktuelle Ausstellung zusammen mit den "Vrienden van de School van Tervuren" zusammengestellt.

Der etwas matte, verschattete Ton der Bilder ist in der künstlerischen Tradition begründet, der Boulenger noch folgt. Er arbeitet mit dunklen, gedeckten Farben, "was den Einfluss der holländisch-flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts deutlich macht", wie Elisabeth Boser im Katalog zur Ausstellung schreibt. In der zweiten Generation zeigt sich dann schon der allmähliche Übergang zum Impressionismus, der in der dritten Generation dann immer stärker in den Vordergrund tritt.

Ein schönes Beispiel für diesen Impressionismus belgischer Prägung ist Guillaume Vogel. Wie er mit Licht und Farbe seine "Ansicht der Marienkirche in Schaarbeek" auf die Leinwand bringt, ist schlicht sensationell. Dieses dunstige, von erdfarbenem Licht durchtränkte Panorama entfaltet seine ganze Tiefenwirkung und subtile Feinheit erst, sobald man einige Schritte zurücktritt. Dann aber umso mehr.

Erwähnung verdient an dieser Stelle auch Joseph Coosemans, dessen Bilder sogar Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo lobte. Coosemans gelangte als Quereinsteiger in die Kunstszene. Eigentlich war er zuständig für die Postkutschenverbindung zwischen Brüssel und Tervuren. Théodore Fourmois (1814-1871), der als Begründer der Künstlerkolonie Tervuren gilt, erkannte sein zeichnerisches Talent und ermutigte ihn, seinen Weg fortzusetzen. Coosemans hängte seinen Postkutschen-Job an den Nagel und betätigte sich fürderhin als Maler. Von ihm ist eines der schönsten Bilder dieser Ausstellung zu sehen, der "Spaziergang in den Kempen", eine von warmem Herbstlicht durchflutete Waldszene.

Mit der Straßenbahn nach Tervuren

Von der Postkutsche aber nun zur Straßenbahn, die heute von Brüssel nach Tervuren fährt, denn sie führt auch zu der Erklärung, wie die Ausstellung ihren Weg nach Dachau gefunden hat: Salvatore De Meo, ehemaliger Bürgermeister von Dachaus Partnerstadt Fondi, sitzt seit drei Jahren im Europaparlament. Weil die Partnerschaft mit der italienischen Stadt seit 25 Jahren besteht, es also einen runden Geburtstag zu feiern gibt, lud er im Januar seinen Nachfolger sowie Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann zu sich nach Brüssel ein.

Weil Hartmann seit knapp zwei Jahren auch Präsident von Euroart ist, einem internationalen Netzwerk, dem 46 ehemalige Künstlerkolonie aus zwölf Ländern angehören, erschien ihm die Gelegenheit günstig für einen Abstecher nach Tervuren, weil es "sich zu Brüssel verhält wie Dachau zu München", wie der OB bei der Eröffnung der Ausstellung erklärte, also sozusagen gleich ums Eck liegt.

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Von Gregor Schiegl

Der OB stieg in die Straßenbahn, die von Brüssel nach Tervuren zuckelt, um die "Freunde der Schule von Tervuren" zu besuchen. Der 1987 gegründete Verein ist Mitglied von Euroart und kümmert sich um das künstlerische Erbe der Künstlerkolonie. Als Hartmann eintraf, musste er jedoch feststellen, dass die Sammlung eingemottet in einem Depot lagerte; der Verein baut gerade ein neues Museum. Das brachte den OB auf die Idee, sich die Sammlung auszuleihen, die in Tervuren gerade sowieso nicht gezeigt werden konnte, und nach Dachau mitzunehmen. So sind 76 Gemälde und Grafiken aus dem Bestand des Vereins nach Dachau gekommen, von denen 73 gezeigt werden.

Vielleicht finden nach dieser Ausstellung nun auch einige Dachauer den Weg nach Tervuren. Viele Gebäude, Landschaften und Naturflächen auf den ausgestellten Bildern gibt es bis heute: Der Park von Tervuren war ein beliebtes Motiv, das malerische Voertal und nicht zuletzt der imposante Zonienwald, der heute zum Unesco-Weltnaturerbe gehört. Dort stehen sogar noch einige Bäume, unter denen auch Hippolyte Boulenger gewandelt sein mag. Die ältesten sind heute 250 Jahre alt.

"Tervuren. Eine belgische Künstlerkolonie", Gemäldegalerie Dachau. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag jeweils von 11 bis 17 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertag von 13 bis 17 Uhr. Die Ausstellung geht noch bis 10. März 2024.

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